„Unter aller Sau“: Azubi aus Kreis Gießen spricht Klartext über Pflege-Ausbildung

Von Hohn bis fehlende Wertschätzung: Ein Pfleger-Azubi aus dem Kreis Gießen gibt Einblicke in seine Arbeit – und übt heftige Kritik an der Examen-Organisation.
Pohlheim – Kommende Woche beendet Desmond Jackson seine Ausbildung in Pohlheim zum Krankenpfleger. „Es ist der schönste Beruf des Universums“, sagt er. Und doch prägen hohe Belastung und die Corona-Pandemie seinen Alltag – denn noch immer steigen die Corona-Fallzahlen und Inzidenzen in Hessen.
Jackson beklagt zudem fehlende öffentliche Wertschätzung. Dies macht er auch an Schwierigkeiten nun bei den Abschlussprüfungen in Garbenteich fest.
Pfleger in Corona-Zeiten: Azubi aus Kreis Gießen wie „an die Front geschickt“
Das Corona-Virus bricht aus, da steckt Desmond Jackson gerade im ersten Jahr seiner Ausbildung zum Krankenpfleger. Strapaziös ist seine Arbeit in einem Krankenhaus damals ohnehin: Wunden versorgen, Patienten waschen, Notfälle betreuen, ständiger Zeitdruck. Plötzlich aber steckt Jackson mitten im Epizentrum der Pandemie. Bis heute.

Einmal, in der Anfangszeit der Corona-Krise, sei vor dem Krankenhaus versuchsweise ein Triagezelt aufgebaut worden, erzählt Jackson. Alle eintreffenden Patienten sollten dort untersucht werden, um die Einrichtung möglichst frei von Infektionen zu halten.
„Mein Vater war als US-Soldat weltweit im Einsatz“, sagt der 33 Jahre alte Jackson. „Und plötzlich hatte ich als Gesundheits- und Krankenpfleger das Gefühl, dass ich an die Front geschickt werde.“
Azubi aus Kreis Gießen über Pflege-Notstand: „Mit wem soll ich arbeiten?“
Jackson sitzt in einem Café. Es herrscht Stimmengewirr, das Lokal ist gut gefüllt, Jackson spricht laut und in schnellen Sätzen. Vor einer Woche, erzählt er, habe er in Garbenteich am Christlichen Bildungszentrum für Gesundheitsberufe seine theoretischen Abschlussprüfungen geschrieben. „Es ist gut gelaufen.“
Und doch treiben ihn Sorgen um. „Mit wem soll ich denn später arbeiten?“, spricht er dramatische Nachwuchsprobleme in seinem Beruf an. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung werden im Jahr 2030 in der Pflege 500.000 Vollzeitkräfte fehlen. Verstärken könnte das die Impfpflicht für den Pflegebereich – bereits zu Beginn der Impfkampagne sahen viele Pflegekräfte die Corona-Impfung skeptisch.
Viele Pflegekräfte schlucken den Stress, bis sie am Ende ausgebrannt sind. Ich habe das Glück, dass ich vorher platze.
Er habe nicht den Eindruck, dass sich die Politik um das Problem wirklich kümmert. Den Applaus aus Fenstern und von Balkonen am Anfang der Pandemie habe er als Hohn wahrgenommen.
Pfleger-Azubi aus Kreis Gießen beklagt fehlende öffentliche Wertschätzung
Denn gleichzeitig habe es im beruflichen Alltag an Schutzkleidung gefehlt, der damalige Gesundheitsminister habe sich in einer Masken-Affäre mit Vorwürfen der Vorteilsnahme auseinandersetzen müssen. „Und Menschen haben sich als Paketboten und Ärzte verkleidet, um als Besucher unerlaubt ins Krankenhaus zu gelangen.“
Jackson verdient in seinem dritten Ausbildungsjahr 1038 Euro netto im Monat. „Ein Bankkaufmann verdient in der Lehre auch nicht viel mehr“, merkt Jackson an. „Es geht nicht ums Geld. Sondern um ein strukturelles Problem.“
Es gehe um öffentliche Wertschätzung. Er macht dies auch an Schwierigkeiten in der Ausbildung fest. Vor wenigen Tagen, berichtet er, habe sich kurz vor den theoretischen Abschlussprüfungen eine Azubi-Kollegin mit dem Corona-Virus angesteckt. „Sie muss ein halbes Jahr warten, bis sie das Examen in Garbenteich nachholen kann“, beklagt Jackson.
Arbeit auf Corona-Station: Pfleger-Azubi aus Kreis Gießen gibt Einblicke
Er habe mit dem Regierungspräsidium Darmstadt telefoniert, das für die Organisation verantwortlich ist. „Die Antwort war, dass mehr Prüflinge erkrankt sein müssten, um das Examen an einem Termin in den kommenden Tagen nachzuholen.“ Jackson atmet tief ein und aus. „Das ist unter aller Sau. Nachdem wir uns drei Jahre lang den Hintern aufgerissen haben.“
Jackson gibt kleine Einblicke in seinen Alltag als Pflegekraft. Er erzählt von knapp 100 Überstunden allein in seinem ersten Ausbildungsjahr. Von Ausnahmesituationen und der Begegnung mit dem Tod von Patienten. „Weiter geht’s“, heiße es dann. Er berichtet von Einsätzen auf der Corona-Station des Krankenhauses, auf der selbst Routinetätigkeiten beängstigend sein können.
Einmal soll er dort einen Patienten beim Gang auf die Toilette unterstützen. Er fordert bei Kollegen einen Toilettenstuhl an, muss dann aber 40 Minuten lang neben dem ihm unbekannten Patienten warten. Wegen strenger Kontaktbeschränkungen auf der Station könne er nicht einfach durch die Flure rennen und den Stuhl selbst holen, erklärt er. „Gerade in solchen Momenten macht sich der immense Druck bemerkbar, unter dem wir arbeiten.“
Azubi aus Kreis Gießen: Arbeit als Pfleger im Durchschnitt nur für acht Jahre
Auch in den Wünschen Jacksons für den Pflegerberuf werden Missstände deutlich. „Schutzausrüstung sollte immer verfügbar sein“, sagt er. Die Einweisung in Geräte müsste als Teil der Arbeitszeit gelten.
Er liebe den Beruf als Krankenpfleger. Viele persönliche Begegnungen empfinde er als bereichernd. „Aber ich weiß nicht, ob ich den Beruf jungen Menschen guten Gewissens empfehlen kann.“ Ein gesunder Umgang mit dem beruflichen Stress als Pflegekraft werde in der Ausbildung nicht gelehrt, sagt Jackson, der in seiner Freizeit unter anderem Gitarre spielt, rappt und singt.
12.000 Pfleger mehr als üblich arbeitslos
Die große Mehrheit unter seinen Kollegen sei geimpft, berichtet Desmond Jackson. Er habe mit einer Kollegin zu tun, die eine Impfung ablehnt. Die Bundesagentur für Arbeit hat am gestrigen Dienstag gemeldet, dass kurz vor der möglichen Einführung einer Impflicht aktuell 12.000 Pflegekräfte mehr als üblich als arbeitssuchend gemeldet sind. Experten befürchten vor diesem Hintergrund einen drohenden Pflegenotstand.
Morgens klingelt sein Wecker um 4.30 Uhr. Die kräftezehrende Tätigkeit beeinträchtige sein Familienleben, er lebe in Trennung, sagt Jackson, Vater eines zwei Jahre alten Sohns. „Viele schlucken, bis sie ausgebrannt sind“, ergänzt er. „Ich habe das Glück, dass ich vorher platze.“
Es sei bedenklich, dass Pflegekräfte zum großen Teil nach kurzer Zeit wieder hinschmeißen, durchschnittlich nur acht Jahre in ihrem Beruf arbeiten: „Ist das zielführend?“
Arbeit als Pfleger bietet für Azubi aus Kreis Gießen auch „Glücksmomente“
In der Zukunft strebt Jackson ein Studium als medizinischer Assistent, als sogenannter Physician Assistant, an. Zunächst aber will er einige Jahre als Pflegekraft arbeiten. Kürzlich, erzählt er, habe er eine 52 Jahre alte Corona-Patientin betreut, eine Schulleiterin. „Ihre Werte waren schlecht, es war auf Messers Schneide.“
Der Moment, als die Frau zum ersten Mal ohne künstliche Beatmung und ohne Viruslast ihren Mann umarmen durfte – „das war beeindruckend“. Das seien „Glücksmomente, das stärkt mich“, sagt Jackson. Dann sei der Beruf als Gesundheits- und Krankenpfleger „der schönste im Universum“. (Stefan Schaal)
Die stark ansteigende Zahl von Neuinfektionen mit dem Coronavirus hat große Auswirkungen auf die Personalsituation in Alten- und Pflegeheimen in Gießen.