Rückblick auf 101 Jahre Lebenserfahrung

Pohlheim (rge). Gisela Distler-Brendel war Professorin für Musikpädagogik am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Am heutigen Samstag feiert sie in Pohlheim ihren 101. Geburtstag. Dass sie noch geistig fit ist und sich trotz eines schweren Sturzes vor drei Jahren noch im Rollstuhl körperlich gesund fühlt, empfindet sie als ein besonderes Geschenk. Noch heute hört sie gerne die von ihr geliebte klassische Musik und spielt ab und an Cembalo in ihrem Wohnzimmer, wenn sie nicht Bücher neuerer Literatur liest.
Geboren am 11. Januar 1919 im niedersächsischen Quakenbrück, verbrachte sie ihre Jugend in Lüneburg. Als Tochter eines Gymnasiallehrers und ihrer russischstämmigen jüdischen Mutter, die in Germanistik und Philosophie promovierte, wuchs sie mit ihren zwei Schwestern auf. Erste Berührung mit der Musik, die dann ihr ganzes Leben bestimmen sollte, hatte sie bereits im Alter von sechs Jahren im Klavierunterricht. Die Verfolgung und Rechtlosigkeit in Zeiten des Nationalsozialismus erlebte sie als junge Frau unter anderem mit dem Studienverbot.
1945 heiratete sie den Geiger Hubertus Distler, mit dem sie bereits zuvor illegal Hauskonzerte gegeben hatte. Es kam ein Sohn zur Welt, der im Alter von zwei Jahren verstarb. In der Folgezeit gab das Ehepaar Konzerte im In- und Ausland, später auch im Hamburger Quartett für Barockmusik. Sie studierte Pädagogik und wurde 1961 erste hauptamtliche Lehrkraft im Fach »Musikerziehung« an der Justus-Liebig-Universität, an dem später das Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik aufgebaut wurde.
Ihr Mann verstarb bereits 1972. Ein Jahr später wurde sie zur Professorin ernannt und lehrte bis zur Pensionierung 1985. Im von ihr mitgegründeten Barockensemble, einem Zusammenschluss von Musikern des Philharmonischen Orchesters des Stadttheaters, spielte sie Konzerte und ging viel auf Reisen durch ganz Europa. »Eine Zeit der Freiheit und des reichen Erlebens«, bezeichnete sie diese Lebensphase dankbar.
Als sie 2001 eine von Taliban verfolgte junge Afghanin kennenlernte, schloss sie diese gleich in ihr Herz. Alle bürokratischen Hindernisse wurden überwunden und an dessen glücklichen Ende stand die Adoption. Bis heute verfolgt sie die Ereignisse über Politik und Umwelt in TV und Zeitung mit großem Interesse, wenn auch mit »Zorn und Sorge«, wie sie sagt. Heute freut sich die Jubilarin über ihre drei Enkel, die ihr gemeinsam mit ihrer Tochter und deren Mann in Hausen gratulieren werden. rge/FOTO: RGE