Ein filmreifes Leben: Wie ein Watzenborner Jude seine Heimat wieder fand
Siegfried Katz aus Watzenborn entkam mit 17 aus dem nationalsozialistischen Deutschland, seine Familie wurde ermordet. Ein Zufall führte ihn 30 Jahre später zurück in die Heimat. Nun ist er gestorben.
Sechs Zentimeter hoch. Vier Zentimeter breit. Eine Todesanzeige in dieser Größe am Samstag in der Gießener Allgemeinen Zeitung bewegte viele Menschen im Kreis – vor allem in Watzenborn. »Ein Zeitzeuge ist gestorben«, steht über dem Namen des am Neujahrstag verstorbenen Mannes, dessen Lebensgeschichte Bücher füllen könnte. Siegfried Katz, 1922 in Watzenborn geboren, floh mit 17 Jahren vor den Nationalsozialisten aus seiner Heimat. In Kanada baute er sich ein neues Leben auf, er gründete eine eigene Firma und produzierte Plastikwaren. Bis ihn der Zufall – oder das Schicksal – wieder in sein Heimatdorf führte.
Wir mussten bei der Gestapo Bücher verbrennen. Ab und zu habe ich mich hingesetzt, um ein Buch zu lesen
Siegfried Katz (1922-2019)
So manche Watzenborner erinnern sich noch an das Stoffgeschäft der Eltern Max und Betti Katz in der Gießener Straße, gegenüber des Gasthofs »Zur Krone«. Heute liegt ein Parkplatz an der Stelle des früheren Hauses, wo Siegfried Katz aufwuchs. Er besuchte die Volksschule in Watzenborn. Die Realschule in Gießen war ein Ziel, hielt er später in einem Lebensbericht fest. »Die haben mich als Juden nicht genommen.« Früh traf er auf Hass von Schulkameraden. »Wenn die Späße nicht mich, sondern meine Eltern betrafen, taten sie weh.« Vergessen habe er die Anfeindungen nie. Die meisten Schüler, erinnerte er sich, »waren bei der Hitlerjugend und durften nicht mehr mit mir sprechen.« In seiner Familie sei bald die Erkenntnis gewachsen: »Möglichst schnell Deutschland verlassen, raus aus dem Land.«
Zunächst zog er 1938 nach Kehl am Rhein, um eine Ausbildung bei einem jüdischen Uhrenmacher anzutreten. Als Jude war es schwierig, eine Lehrstelle zu finden. In Kehl erlebte Katz die Verfolgung von Juden, sein Chef wurde im November 1938 festgenommen. »In meiner Angst nahm ich mein Fahrrad und fuhr bis abends um 18 Uhr planlos herum«, erzählte er später. Zurück auf seinem Zimmer klopften SS-Leute an seine Tür. »Sie waren mit zwei Autos gekommen und forderten mich auf, mich zwischen die beiden Autos zu stellen«, schilderte er. »Dann fuhren sie an, und ich musste in der Fahrgeschwindigkeit der Autos laufen, besser rennen.«
Katz war damals ein 16 Jahre alter Jugendlicher. Drei Wochen lang musste er bei der Gestapo putzen, aufräumen und beschlagnahmte Dokumente und Bücher verbrennen. Wurde er nicht beobachtet, wagte er einen Blick in die Werke. Ab und zu habe er sich hingesetzt, um ein Buch zu lesen, schilderte er später. »Aber wenn ich erwischt wurde, gab es einen Tritt in den Hintern.«
Neues Leben als Siegfried Keats
Schließlich hatte er Glück. Durch Verwandte kam er an ein Visum für England. Anfang März 1939 reiste er mit seinem Vater nach Köln. Es waren die letzten Stunden, die er mit ihm verbrachte. »Wir beide standen am Bahnsteig und nahmen unter Tränen Abschied.« Seine Eltern und seine Schwester sah er danach nie wieder. Sie wurden im Konzentrationslager in Treblinka ermordet.
In England landete Katz in Internierungslagern, wurde nach Kanada verschifft. »Ich war ja Deutscher. Dass ich vor den Nazis geflohen war, interessierte keinen.« Katz war auf sich allein gestellt. Seine Familie war getötet worden, eine Rückkehr in die Heimat erschien nach dem Zweiten Weltkrieg zu schmerzhaft. Er baute sich unter dem Nachnamen Keats ein neues Leben auf. In London bildete er sich zum Ingenieur weiter, arbeitete in einer Uhrenwecker-Fabrik in Schottland und heiratete eine Musikstudentin aus Kanada.
Ein geplatzter Termin führte ihn nach Watzenborn zurück
Er gründete eine Familie, wurde Vater einer Tochter und dreier Söhne. 1954 zog die Familie nach Kanada. Anfang der 70er wagte er den Schritt in die Selbständigkeit, stellte Plastikprodukte her. Die Maschine kaufte er in Deutschland, eines Tages reiste er nach Frankfurt zu Verhandlungen. Doch ein Termin platzte. Er entschloss sich, Watzenborn-Steinberg nach all den Jahren wieder zu besuchen. Es ist kaum möglich, sich in seine Gefühlslage zu versetzen, geprägt von Unsicherheit, Schmerz und Erinnerungen an seine ermordete Familie. »Es war nicht einfach«, räumte er einmal ein. »Ich wusste nicht, was mich erwartete.«
Er besuchte alte Nachbarn. Und er schloss Freundschaften. Immer wieder besuchte er danach Watzenborn-Steinberg, traf sich mit früheren Schulkameraden. Freunde erinnern sich an Siegfried Katz: Von Bitterkeit sei keine Spur gewesen. Er sei ein herzlicher, »auch lustiger Mensch« gewesen, erzählt beispielsweise Reinhold Häuser, der Katz mehrfach traf. Die Todesanzeige habe ihn sehr bewegt. Am Neujahrstag starb Siegfried Katz im Alter von 96 Jahren an einer Krebserkrankung.
Info
Denkmal gesetzt
Hanno Müller, Historiker und Träger der Hedwig-Burgheim-Medaille, setzte die Anzeige zum Tod von Siegfried Katz in die Zeitung. Er forscht zur Geschichte der Juden in der Region, stand auch in Kontakt mit Katz. Dieser erklärte kurz vor seinem Tod, er habe sich gefragt, wie er seiner Familie ein Denkmal setzen könne. Müller habe dies aber bereits getan. Er habe ihnen wieder ein Gesicht gegeben im Buch »Die Juden in Watzenborn-Steinberg«. Katz erklärte: »Hier leben sie und ich weiter.«