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Erinnerungskultur pflegen

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Von: Patrick Dehnhardt

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Schülerinnen reinigen die Stolpersteine vor dem Haus Klossengasse 2. © Patrick Dehnhardt

Pohlheim (pad). Eine Gruppe Schülerinnen kniet im Kreis auf einem Gehsteig in Watzenborn-Steinberg, ist offensichtlich am Arbeiten. Ein Passant bleibt neugierig stehen. Als ihm Simone van Slobbe erklärt, was die Jugendlichen da tun, ist er voll des Lobs. Geschehen ist diese Szene gestern Mittag, am 27. Januar, dem »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus«.

In Pohlheim ist diese Erinnerungskultur lebendig und vor allen Dingen jung: Jugendliche der Adolf-Reichwein-Schule beschäftigen sich mit der Thematik, erleben Zeitzeugengespräche, informieren sich in Ausstellungen und tragen zur Aufarbeitung der Geschichte bei: So halfen gestern Zehntklässler, die Daten von Karteikarten aus dem Konzentrationslager Stutthof für die Arolsen Archives digital zu erfassen. Diese liegen bislang nur als Fotos vor, sind oft aber per Hand beschrieben worden und damit für Computer nicht automatisch auslesbar. Damit Angehörige und Nachfahren in diesen Daten recherchieren und Spuren finden können, müssen diese in die Datenbank eingegeben werden.

In den vergangenen Corona-Jahren halfen dabei immer wieder ARS-Schüler mit. Dieses Jahr ging es zudem darum, die Erinnerung vor Ort zu pflegen - und zwar wortwörtlich: Mit Essigessenz und Salz wurden die in Watzenborn-Steinberg zu findenden Stolpersteine gereinigt und aufpoliert. 2009 hatte der Künstler Gunter Demnig beispielsweise die fünf Steine vor der Klossengasse 2 gesetzt, die von der eingangs erwähnten Schülergruppe nun gepflegt wurden.

Dort lebte einst die Familie Adler zusammen mit Johanna Süß. Van Slobbe erinnerte an die Lebensgeschichte der jüdischen Mitbürger. 1921 hatte David Theodor Adler seine Frau Emma geheiratet, das Paar bekam zwei Kinder. Theodor Adler handelte mit Manufaktur- und Wollwaren, war zudem »Metzger, der nicht ständig schlachtet«.

Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, wurde der Familie das Leben zunehmend schwer gemacht. 1938 wurden alle jüdischen Kinder aus den Schulen verbannt. Bis 1939 erhielten diese noch Unterricht in jüdischen Schulen, doch auch dies verboten die Nazis.

Zur Reichspogromnacht wurde Theodor Adler verhaftet und nach Buchenwald deportiert, dort misshandelt. Nach fünf Wochen ließen ihn die Nazis mit bleibenden körperlichen Schäden frei. Er musste eine Verpflichtung unterschreiben, Deutschland zu verlassen. Am 30. April 1939 floh er nach New York. Er wollte seine Familie nachholen - doch die Familienmitglieder erhielten keinen Reisepass.

Die Kinder Kurt und Lydia, später auch Emma Adler und Oma Johanna Süß zogen nach Frankfurt, da dort die Repressalien zwischenzeitlich noch erträglicher waren. Ihr Haus mussten sie verkaufen, das Geld wurde auf ein Sperrkonto überwiesen, sodass sie nicht herankamen. Im November 1941 wurden Lydia, Kurt und Emma Adler nach Kaunas in Litauen deportiert, dort erschossen. Zehn Monate später wurde auch Johanna Süß ermordet: im KZ Theresienstadt. Theodor Adler überlebte, musste jedoch aus den USA heraus machtlos miterleben, wie seine Familie ausgelöscht wurde.

Geschichte von Mitbürgern

Nun haben einige der Jugendlichen, die sich an der Aktion beteiligen, einen Migrationshintergrund. Van Slobbe findet, dass es auch für diese wichtig ist, sich mit der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Gerade im arabischen Raum gebe es kaum oder falsche Informationen über den Holocaust, dafür aber einen offenen Antisemitismus, der sich mit den Hassbotschaften der Nationalsozialisten überschneidet. Für diese Jugendlichen sei es wichtig, zu erkennen, dass dieser Hass genauso unberechtigt ist wie jener, der ihnen aufgrund ihrer Abstammung von manchen Deutschen entgegenschlägt.

Lehrerin Filiz Bulut hat festgestellt, dass die Jugendlichen sich für das Thema heute aus neuen Blickwinkeln interessieren. »Sie stellen andere Fragen, auch den Zeitzeugen.« Diese würden von einem großen Interesse und einem Beschäftigen mit dem Thema zeugen - und einen Baustein dafür bilden, dass sich solch eine Geschichte auf deutschen Boden nie mehr wiederholt.

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