»Ohne eure Hände geht es nicht«

Die Flutkatastrophe in Westdeutschland macht auch viele Menschen im Kreis Gießen betroffen. Ein Besuch im Ahrtal mit zwei Helfern aus Annerod zeigt: Die Dankbarkeit der Menschen ist groß - aber auch die Furcht, dass die Hilfe abebben könnte.
Staunend und gebannt schaut Florian Rühl aus dem Fenster des 7,5-Tonnen- Lkw. Neben der Straße plätschert gemächlich die Ahr, von der mächtigen Steinbrücke darüber sind nur Trümmer übrig. »Eine Flutwelle bis zum ersten Obergeschoss; 40-Tonner, die das Wasser übereinander gestapelt hat - ich kann es mir immer noch nicht vorstellen«, sagt der 35-Jährige. Der Anneröder arbeitet bei der Frankfurter Berufsfeuerwehr, ist einiges gewohnt. Doch dieses Ausmaß an Zerstörung macht ihn fassungslos. »Für mich war sowas in Deutschland unvorstellbar.«
Die Starkregen-Katastrophe Mitte Juli hat über 200 Menschenleben gekostet, Abertausende stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Die Hilfs- und Spendenbereitschaft ist auch im Kreis Gießen groß, unter anderem in Annerod. Von dort haben sich an diesem Morgen Malermeister Ingo Rühl und sein Cousin Florian auf den Weg in den 1700-Einwohner-Ort Dernau in Rheinland-Pfalz gemacht, nachmittags geht es zurück.
An Bord des Lkw samt Anhänger: Farbe, Folie, säckeweise Putz, Werkzeug, Arbeitsschuhe, Handschuhe, 800 Rollen Klebeband, ein Wickeltisch für eine Kita und vieles mehr, was im Ahrtal nun gebraucht wird.
Für Ingo Rühl ist es bereits die dritte Fahrt nach Dernau. Er ist Teil eines regionalen Handwerker-Netzwerks, das der Alten-Busecker Bauunternehmer Herbert Rau ins Leben gerufen hat. Die Helfer aus verschiedenen Gewerken sammeln Spenden, fahren Material in das Ahrtal, begleiten Betroffene beim Wiederaufbau.
»An der Ahr sind 40 Kilometer Flussbett zerstört - wir können nicht überall hin«, sagt der 34-Jährige. Er konzentriert sich vor allem auf Dernau. Dort rollen um die Mittagszeit allerlei schuttbeladene Lkw, Traktoren, Fahrzeuge von THW und Polizei über gebeutelte Straßen - und immer wieder »Helfer-Shuttles« mit Freiwilligen. Auch viele hessische Kennzeichen sind zu sehen.
Die Rühls parken gegenüber vom alten Bahnhof, in den wohl länger kein Zug mehr einfahren wird. »Der ist jetzt zu einem Tante-Emma-Laden umgebaut«, erklärt Ingo Rühl. Ein Evergreen hallt trotzig über die Straße: »Que sera, sera«. Es kommt, wie es kommt.
Die beiden Cousins laden vom Anhänger einen Kinder-Schreibtisch ab, als Hausbesitzerin Ivonne Paetz ihnen lächelnd entgegenkommt. Rühl unterstützt sie und ihren Mann bei der Sanierung. Heute will er sich einen aktuellen Eindruck verschaffen, den weiteren Fahrplan besprechen. Aber erst einmal ist die Freude über das unversehrte Möbel groß: »Boah, wie geil ist das denn!«, entfährt es Ivonne Paetz. Der Tisch soll ins Obergeschoss, damit die kleine Tochter ihn zum Malen nutzen kann. Ein Stück Normalität in einem Haus, das frisch renoviert war - und dann über Nacht zum Sanierungsfall wurde.
Vor der Flut hat die Familie im Erdgeschoss und der ersten Etage gewohnt. Als die Ahr im Juli über die Ufer trat, habe sie sich nicht vorstellen können, wie hoch das Wasser steigen würde, berichtet Paetz. »Wir haben uns in der Nacht in den zweiten Stock gerettet, der Speicher wäre die letzte Option gewesen.« Sie habe währenddessen keine Angst gehabt, sondern einfach funktioniert.
Zwar sei Stunden vor der Flutnacht die Feuerwehr durch den Ort gefahren und habe gemahnt, die Häuser zu sichern. »Aber es gab keinen Aufruf, die Häuser zu verlassen. Als nachmittags die Bilder aus Altenahr kamen, hätte man es schon kapieren müssen.« Offenbar sei bei den Warnungen und der Koordination der Aufräumarbeiten durch Behörden vieles nicht glattgelaufen. »Wenn Herr Rau, Ingo und die Bauern mit ihren Traktoren nicht gewesen wären ...«
Doch mit Vorwürfen sei ja auch niemandem geholfen, findet Paetz. Nun gelte es, nach vorn zu schauen. »Die Ahrtaler sind zäh, ein positives Völkchen - aber ohne Hilfe ist es nicht zu stemmen.« Ihre Befürchtung: »Je weniger es präsent ist, desto weniger werden kommen.« Ihr Mann ist Elektriker. Er schätzt, dass allein in Dernau hunderte Berufskollegen gebraucht werden. Trotz allem will Ivonne Paetz sich nicht beschweren. Die Familie hat nun bei Remagen eine Bleibe für den Übergang gefunden, im Verwandten- und Freundeskreis sind keine Opfer zu beklagen.
Wo Häuser nicht mehr zu retten waren, sind Grundstücke planiert. Viele Gebäude stehen noch, wirken von außen - abgesehen von der Wasserkante auf Höhe der erste Etage - fast intakt. Doch hinter den Fassaden sind die Wände blank, sieht es aus wie im Rohbau. Die Ahr ist noch immer braun gefärbt, aber der Pegel hat sich längst gesenkt. Friedlich fließt das Flüsschen an diesem Spätsommertag durch das verwüstete Tal. Kaum zu begreifen, dass das Wasser hier meterhoch stand. Oberhalb von Dernau ragen grüne Weinberge empor, als wäre nichts gewesen. Es ist weitgehend ruhig. Nur das permanente Rattern von Stemmhämmern ist den ganzen Tag über zu hören. Überall wird entkernt. Eine Anpack-Mentalität, Zwangsoptimismus und Aufbruchstimmung sind greifbar. Keine Zeit zum Innehalten.
Die Anneröder machen sich zu ihrer nächsten Station auf. Ingo Rühl manövriert den Lkw über eine enge Brücke, »eine der wenigen, die intakt geblieben ist«. Auf der anderen Seite der Ahr trifft er sich mit Experten, um ein Haus zu begutachten. Es geht darum, wie stark die Wände mit Öl kontaminiert sind. Das ist ein großes Problem, denn in etlichen Kellern traf die Flut auf Öltanks. An vielen Stellen liegt noch immer ein penetranter Ölgeruch in der Luft.
Zwischendurch greift der Malermeister immer wieder zum Handy, trifft Absprachen, vermittelt Kollegen. »Für mich sind das ein paar Telefonate, aber damit ist jemandem geholfen«, sagt er. »Seien wir mal ehrlich: Uns geht’s doch gut!« Die Hilfe sei »eine Mischung aus ehrenamtlich und gewerblich«, erläutert Rühl, »natürlich müssen wir auf Dauer auch was verdienen.«
Umso wichtiger ist, frühzeitig zu klären, welche Versicherung was übernimmt. Bis er mit seinem Gewerk vor Ort voll einsteigen kann, wird es noch einige Zeit dauern, doch die Grundlagen werden jetzt gelegt. Ein Wiederaufbauprojekt, das Rühl und andere wohl über Jahre beschäftigen wird. »Diese Baustelle ist nicht bis Weihnachten fertig«, so viel steht fest. »Aber es ist jetzt einfach so - wenn wir es nicht machen, wer sonst?«
Eine Botschaft ist in Dernau allgegenwärtig, sie prangt auf Plakaten in brüchigen Fenstern, an ausgewaschenen Straßen: »Danke für eure Hilfe!« Ingo Rühl findet: »Das Schöne ist die Dankbarkeit vor Ort, die Leute haben ja weniger als null.« Die Unterstützung ist überwältigend, doch sie muss sich teils durch enge Nadelöhre zwängen: Im Lkw und dem Anhänger aus Annerod ist noch einiges übrig. Doch es braucht Geduld, bis auf dem Sammelplatz im Nachbarort endlich ein Stellplatz frei wird, die Cousins dort im improvisierten »Baustoffzelt« ihre Ladung abgeben können. »Ich nehme nichts wieder mit!«, sagt Ingo Rühl.
Etwas nimmt er dann aber doch mit nach Hause: Kurz vor der Rückfahrt läuft Ivonne Paetz über die Straße. Sie drückt dem Malermeister ein Geschenk in die Hand: eine Flasche »Flutwein«, die die Katastrophennacht überstanden hat. Paetz reibt den Schlamm vom Etikett ab. »Der Name passt: ›Hand in Hand‹«, sagt sie lächelnd, »ohne eure Hände geht es einfach nicht.«