Rückkehr zum Präsenzunterricht im Kreis Gießen: Nun sind die Schüler aus dem Haus

Haushalt, Homeoffice, Homeschooling: Für viele Eltern waren die Monate des Lockdowns nicht einfach. Dass sich die Klassenzimmer hierzulande nun wieder füllen, sorgt für einen Hauch von Normalität. Doch die Pandemie hat auch Spuren hinterlassen. Wie geht man damit um?
Gießen – Die Klassenzimmer füllen sich wieder: Ab dem heutigen Montag dürfen im Kreis Gießen auch die Jahrgangsstufen sieben bis elf vollständig zum Präsenzunterricht zurückkehren. Damit erhält ein Hauch von Normalität Einzug - und zwar nicht nur an den Schulen, sondern auch in den heimischen Wohnzimmern, wo Eltern in den vergangenen Monaten bisweilen zwischen Homeschooling, Haushalt und Homeoffice balancieren mussten und dabei mit den unterschiedlichsten Problemen zu kämpfen hatten.
»Ich habe mit vielen Eltern gesprochen, die gesagt haben: Unser Kind will nicht mehr lernen und keine Hausaufgaben mehr machen. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll«, erzählt Halyna Siegl, Elternbeiratsvorsitzende an der Burgschule in Lich. In den vergangenen Monaten stand sie den Eltern der Grundschulkinder persönlich, per Telefon und WhatsApp bei Fragen und Problemen zur Verfügung - ein Angebot, das gerade von Eltern, die der deutschen Sprache nicht so mächtig sind, gut angenommen worden sei. »Oftmals ist die Hemmschwelle ja doch größer, die Lehrerin zu fragen«, sagt Siegl. »Ich glaube, dadurch konnten wir ein paar Kinder auffangen, die jetzt zumindest regelmäßig ihre Aufgaben gemacht haben.«
Schulen im Kreis Gießen: „Normalität muss auf Programm stehen“
Doch trotz aller Bemühungen von Eltern und Lehrern: Homeschooling im Grundschulalter ist eine Herausforderung. Für die Viertklässler funktioniere Unterricht per Videokonferenz oftmals bereits gut, sagt Siegl. Doch in den ersten und zweiten Klassen sei das anders. Auch das Motivationsproblem kennt die Mutter, deren drei Kinder die erste, zweite und vierte Klasse besuchen, aus eigener Erfahrung. »Dadurch, dass ich selbst einen pädagogischen Hintergrund habe, habe ich ein paar Kniffe auf Lager, um meine Kinder wieder zu motivieren«, sagt sie. Dennoch sei das Homeschooling sehr anstrengend gewesen - für alle.
Wer glaubt, dass der Jubel über die Rückkehr in die Schule in jedem Kinderzimmer groß war, der irrt allerdings. »Als es wieder losging, hatten meine Kinder keine Lust mehr, in die Schule zu gehen«, erzählt Siegl. Erst als in der vergangenen Woche wieder alle Kinder einer Grundschulklasse zusammenkommen durften, habe sich das geändert. Siegl kann das nachvollziehen - auch wenn sie sich aus pandemischer Sicht eine Fortführung des Wechselmodells bis zu den Sommerferien gewünscht hätte. »Ich verstehe, dass meine Kinder sich riesig freuen«, sagt sie. »Es muss jetzt erst einmal ein bisschen Normalität auf dem Programm stehen.«
Schulen im Kreis Gießen haben einiges aufzuholen
Dass die hessische Landesregierung beschlossen hat, dass weniger Arbeiten geschrieben werden sollen als geplant, sei daher gut, meint Siegl - auch, wenn es einiges aufzuholen gebe. Freiwillige Sommerschulen könnten dabei helfen und würden ein gutes Betreuungsangebot darstellen, sagt sie. Allerdings bräuchten die Kinder auch »richtige Ferien«, und vermutlich werde man mit den Angeboten nicht die erreichten, die es am nötigsten hätten. »Wir hatten Eltern, die die Aufgaben über die ganze Zeit nicht abgeholt haben«, erzählt die Elternbeiratsvorsitzende und plädiert für eine Ausweitung von Nachmittagsangeboten an den Schulen.
Der gleichen Ansicht sind auch viele Eltern von Schülern der Clemens-Brentano-Europa Schule in Lollar und Allendorf. Das zeigt eine Umfrage, die der Schulelternbeirat dort gerade durchführt - und die bereits die dritte ihrer Art im Laufe der Pandemie ist. Wünsche der Eltern, wie der nach mehr individuellem Feedback und einer einheitlicheren Aufgabenstellung über die Plattform IServ, werden so ermittelt und dann an die Lehrer weitergegeben. »Die Umfragen bieten viel Raum für offene Kritik«, sagt Sabine Gerbich, die Vorsitzende des Elternbeirats. »Und die Eltern sehen: es ändert sich was.«
Schulen im Kreis Gießen: „Bildungsungerechtigkeit gab es bereits „
Viel eigenständige Arbeit, hohe Motivation, regelmäßiges Feedback, kaum psychische Probleme, wenig Überforderung - die Ergebnisse der Umfrage fallen insgesamt recht positiv aus. Dennoch zeigen die Kommentare etwas, das im Digitalen wie im Analogen gilt: Letztlich ist die Qualität des Unterrichts eben oftmals vom Lehrer abhängig, denn zum Teil gehen die Erfahrungen doch weit auseinander. Hinzu kommt: An den Umfragen nehmen überwiegend Eltern von Gymnasiasten Teil. »Bildungsungerechtigkeit gab es bereits vorher«, sagt Gerbich. Allerdings sei natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass sie sich im Zuge der Pandemie verschärft habe.
Dass Kinder im Homeschooling durchschnittlich deutlich weniger Zeit mit Lernen verbringen, findet Gerbich dagegen nicht alarmierend. Schließlich lasse sich Lernen ja nicht in Zeit messen. »Das eigenständige Lernen am PC ist sehr viel intensiver, als sich berieseln zu lassen«, sagt sie und sieht in der Situation sogar noch etwas Positives: »Dass Schüler gelernt haben, eigenständig zu arbeiten, ist ein riesiger Erfolg von Corona.«
Auch Schätzungen des Deutschen Lehrerverbandes, wonach jedes fünfte Kind in der Pandemie abgehängt worden sei, hält Gerbich für zu hoch. »Ich denke, dass Lerndefizite - sofern diese überhaupt bestehen - relativ gut wieder ausgeglichen werden können«, sagt sie. Und dabei könne den Kindern eben jene selbstständige Arbeitsweise helfen.