Geflüchtete im Kreis Gießen: Bürgermeister stimmt Brandbrief zu - „Nicht unbegrenzt belastbar“
Mit einem Brandbrief haben sich vor kurzem der Landrat und die Bürgermeister aus dem Main-Taunus-Kreis an die Landes- und die Bundesregierung gewandt. Wie sieht die Situation im Kreis Gießen aus?
Gießen - Wohnraum ist knapp, bezahlbarer allzumal. Betreuungsplätze in den Kindertagesstätten sind vielerorts Mangelware. Erzieherinnen zu finden, wird immer schwerer. Das gilt im Kreis Gießen ebenso wie andernorts. Die Aufnahme von Geflüchteten verschärft solche Probleme. Wie weit reicht die Kraft? Was ist noch leistbar?
Angela Merkels »Wir schaffen das« von 2015 hat jetzt ein grüner Landrat aus Bayern aufgegriffen. Jens Marco Scherf aus dem Kreis Miltenberg sagt im FAZ-Interview: »Wir schaffen das nicht.« Deutschland habe 2022 mehr Flüchtlinge aufgenommen als 2015, 2016 und 2017. Er ist nicht der Erste, der seinen Unmut äußert. Auch der Landrat des Main-Taunus-Kreises hat ein von ihm und allen zwölf Bürgermeistern unterschriebenen Brandbrief nach Berlin und Wiesbaden geschickt. Kanzler Olaf Scholz und Innenministerin Nancy Faeser haben in einer ersten Reaktion einen Gipfel zur Lage angekündigt. Den Kommunen soll geholfen werden. Wie, das ist noch offen.
Klare Worte findet Bürgermeister Lars Burkhard Steinz aus Heuchelheim: »Ich kann nur bestätigen, was die Landräte und Bürgermeister landauf, landab sagen. Die Situation ist nicht unbegrenzt belastbar.« Der Sprecher der Bürgermeister im Kreis verweist dabei darauf, dass Kritik nicht nur aus einem politischen Lager kommt. Und er skizziert die Situation: Kitas laufen voll, Schulen bekommen ihre Probleme. »Ich habe beispielsweise eine Kita mit 100 Plätzen. Dort sind 25 Kinder, die kein Wort Deutsch sprechen«, sagt Steinz. Um damit deutlich zu machen, wo es zusätzlicher Anstrengungen bedarf. Damit die Erzieherinnen eben allen Kindern gerecht werden können. Dazu braucht es mehr Personal.
Geflüchtete im Kreis Gießen: „Nach und nach, das geht immer“
Zuwanderung in einem anderen Tempo kann sich Steinz weiterhin vorstellen: »Nach und nach, das geht immer. Aber eben nicht so wie jetzt.« Ausdrücklich lobt Steinz aber den Landkreis Gießen für dessen Umgang mit dem Zustrom von Menschen: »Das ist untadelig. Mit dem Landkreis bin ich zufrieden.«
Auch beim Kreis ist das Thema auf der Agenda. Anders als in manch anderen Regionen hat der Kreis Gießen die Unterbringung von Geflüchteten zentral übernommen. Dafür wurden und werden Unterkünfte gebaut, Immobilien angemietet et cetera. Und der Kreis kümmert sich um das Management. »Stand heute stehen im Landkreis Gießen noch freie Plätze für die Unterbringung von Geflüchteten zur Verfügung«, heißt es aus dem Kreishaus. Es muss noch nicht auf Turnhallen oder Bürgerhäuser zurückgegriffen werden. Doch die Kapazitäten bleiben knapp. Nach wie vor wird deshalb angemietet, wird neu gebaut. Die Suche nach geeigneten Immobilien oder Fläche gestalte sich aber zunehmend schwieriger.

Auf Anfrage zur Einordnung des »Brandbriefs« wird eingeräumt: »Teilweise treffen die Punkte auch auf den Landkreis Gießen zu.« Man wolle aber »weiterhin dafür sorgen, dass Geflüchtete hier im Landkreis gut ankommen können«. Es sei es mehr als gerechtfertigt, dass die Kosten durch Bund und Land den Kommunen erstattet werden. »Dies geschieht derzeit gemessen an den Ausgaben nicht zu 100 Prozent«, so die Kritik der Kreisspitze um Landrätin Anita Schneider. Deshalb die Forderung: In Europa muss dringend auch die Frage einer fairen Verteilung gelöst werden.
Kreis Gießen achtet darauf, dass Lasten gleichmäßig verteilt sind
Bürgermeistersprecher Steinz weiß derweil, dass es anders, schlechter, laufen könnte: Es gibt Kreise, da werden die Flüchtlinge den Kommunen einfach zugewiesen, und die sollten sehen, wie sie klarkommen. Im Kreis Gießen aber, betont Steinz, werde darauf geachtet, dass Lasten gleichmäßig verteilt sind.
Etwas Druck aus dem Kessel hat im November/Dezember das Anmieten von zehn Häusern in Holzmodulbauweise genommen, die Unternehmen in mehreren Kommunen eigens für diesen Zweck gebaut haben. Das gab Raum für rund 300 Menschen.
Nicht ganz so schnell geht es bei den vier Häusern voran, die der Kreis in Allendorf, Hungen, Lich und Pohlheim bauen lassen will. In Allendorf und Pohlheim sind die Ausschreibungen jetzt gelaufen. Wenn der Zuschlag erteilt wird, dann könne darüber gesprochen werden, wann die beiden Häuser bezogen werden können, gibt sich der zuständige Erste Kreisbeigeordnete Christopher Lipp (CDU) zurückhaltend. Ursprünglich angedachte Termine - Herbst 2022, Jahreswechsel - sind längst verstrichen. Jetzt blickt man Richtung Ostern und Pfingsten. Ausgeschrieben sind schlüsselfertige Holzhäuser, energetisch angelehnt an den Passivhaus-Standard. Später einmal sollen die Standortkommunen die Häuser übernehmen.
Planungen für zusätzliche Klassenräume im Kreis Gießen laufen
Auch an Schulen muss nachgelegt werden. Denn mittlerweile wurden im Landkreis Gießen (ohne Stadt Gießen) über 600 ukrainische Schüler aufgenommen. Hinzu kommen weitere geflüchtete Schüler, die ebenfalls in Intensivklassen unterrichtet werden. Dort sollen sie durch Sprachunterricht auf die Regelklassen vorbereitet werden.
Lipp weiß um eine »angespannte Raumsituation an vielen Schulen aufgrund generell gestiegener Schülerzahlen«. Deshalb wurden im letzten Jahr an sechs Schulen, an denen es kritisch war, zusätzliche Räume geschaffen. Lipp: »Auch in diesem Jahr wird nach den Sommerferien die Schaffung zusätzlicher Klassenräume erforderlich werden.« Die Planungen laufen.
Trotz der großen Herausforderungen gelingt laut Lipp die Aufnahme der ausländischen Schüler durch das große Engagement der Schulgemeinden bisher gut. Der Dezernent attestiert den Schulen »hervorragende Arbeit«. Das Engagement vor Ort sei nach wie vor sehr hoch. Auch die Kreisvolkshochschule hat ihr Angebot an Deutschkursen seit 2021 verdoppelt. Doch auch da sind Grenzen absehbar: Im Gewinnen von Dozenten und bei den verfügbaren Räumen. (Rüdiger Soßdorf)