Neues Leben für altes Quartier

Die Allendorferin Renate Becker und einige Mitstreiter haben eine Vision: Sie wollen der Altstadt neues Leben einhauchen, selbstbestimmtes Wohnen auch für Senioren sichern. Nun planen sie die Gründung einer Genossenschaft - und hoffen auch auf Unterstützung durch die Kommune.
Es ist eine Situation, die so oder ähnlich in vielen Orten zu beobachten ist: Gerade ältere Menschen bewohnen teils große Häuser, die allerdings oft nicht zeitgemäß saniert und ebenso wenig barrierefrei sind. Seniorengerechter Wohnraum in zentraler Lage wird dringend benötigt, auch um älteren Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden weiter zu ermöglichen. Auf der anderen Seite suchen etwa auch Familien nach Häusern und Wohnungen, werden in den Ortskernen aber oft nicht fündig.
Welche Schwierigkeiten diese Konstellation im Einzelfall mit sich bringen kann, weiß Renate Becker aus Allendorf/Lumda: Sie berichtet von einem älteren Ehepaar, das sein Haus verkaufen wollte, »es wurde für sie immer schwerer, es in Schuss zu halten«. Doch im Pflegeheim hätten dann Aufgaben und Selbstbestimmtheit gefehlt. »Ich habe mich gefragt: Was passiert mit den Gebäuden? Es gibt so viele ungenutzte Scheunen in Allendorf, könnte man da nicht Strukturen für altersgerechtes Wohnen reinbringen?« Ein Gedanke, den sie hartnäckig weiterverfolgte.
Für ihre Idee fand sie Mitstreiter, holte sich auch Experten ins Boot: Anhand des Areals zwischen Treiser Straße, Rheingasse, Marktstraße und Kirchstraße im Allendorfer Stadtkern wurde unter Federführung von Prof. Maik Neumann (Technische Hochschule Mittelhessen) in Verbindung mit dem TransMIT-Zentrum für integrales Bauen ein erstes Konzept für eine zukunftsweisende Entwicklung skizziert. Demnach könnte das alte, von Fachwerk geprägte Quartier langfristig so umgestaltet werden, dass ein selbstbestimmtes Leben dort bis ins hohe Alter möglich ist. Schritt für Schritt, so die Idee, soll eine belebte Gegend entstehen, die Perspektiven für alle Generationen bietet.
Das mithilfe von Experten ausgearbeitete Grundkonzept lässt aufhorchen: Die Häuser könnten mit Blick auf Mehrgenerationenwohnen umgebaut, in Module aufgeteilt und wechselnden Bedarfen angepasst werden. Auch Ideen für Nachbarschaftshilfe, die Einbindung von Hauswirtschaftskräften oder Tagesbetreuung finden in der Konzeptskizze Erwähnung. Für Bereiche zwischen den Häusern und Scheunen sind Treffpunkte angedacht, ein Altstadtcafé oder gar ein Wochenmarkt. Auch über die Energieversorgung hat sich das Projektteam Gedanken gemacht und sich mit zentraler wie auch dezentraler Wärme- und Stromversorgung beschäftigt.
Anhand zweier Wohngebäude und einer Scheune im Quartier wurde laut Becker bereits ein möglicher Umbau modellhaft durchgerechnet - und mithilfe von Fördermitteln sei dies unterm Strich wirtschaftlich umsetzbar. In Wiesbaden wurden die Allendorfer Ideen als preiswürdig erachtet: Neben zwei weiteren Bewerbern belegt die Initiative Platz eins beim Hessischen Innovationspreis (siehe Kasten).
»Das Modell wäre auch auf andere Quartiere übertragbar«, unterstreicht Günter Muhly, der sich im Projektteam von »Hand in Hand - neue Altstadt« engagiert. »Allendorf ist ein Modellfall für den Donut-Effekt: Innen ist es hohl«, sagt er. Am Ortsrand werde Wohnbebauung erweitert, auch das Ärztehaus und der Einkaufsmarkt befänden sich nicht im Ortskern. Für die Bevölkerung bedeute das längere Wege, der Flächenverbrauch steige - und durch mehr Siedlungsfläche entstünden der Stadt letztlich auch mehr Kosten. Dass Ältere mangels Alternativen ihr gewohntes Lebensumfeld verlassen müssten, weil barrierefreier Wohnraum fehle, sei »eigentlich ein Drama«. Besonders an der Initative findet er, dass man ein ganzes Quartier in den Blick nimmt. Doch bislang handle es sich eben nur um Ideen, »eine konkrete Planung ist noch nicht gemacht«.
Mit an Bord ist auch Manfred Damm. Seine Mutter sei über 80 und wohne in dem betreffenden Areal, berichtet er. Er werde einmal Miterbe des Hauses sein, »und mich hat das Projekt gleich interessiert. Mir ist daran gelegen, dass mein Elternhaus eine gute Zukunft hat«. Aus Sicht der Anwohner sei klar: »Wir können es nur gemeinsam machen.« Kürzlich fand ein Treffen mit den Bewohnern des Quartiers statt, das Becker und ihre Mitstreiter hoffen lässt: »Es waren fast alle anwesend«, die Ideen seien positiv aufgenommen worden, sagt sie.
Wichtig finden die Initiatoren, die Altstadt wieder in den Fokus zu nehmen. Und von einer solchen Belebung könne letztlich ganz Allendorf profitieren. Nicht zuletzt sollen Quartier und Einzelgebäude »jeder spekulativen Verwendung« entzogen werden, heißt es im Konzeptpapier. Das Projektteam sprudelt vor Ideen, doch nun trete man in eine neue Phase ein, so Muhly: »Die private Initiative ist quasi abgeschlossen, die Realisierungsphase muss auf einer anderen Ebene stattfinden. Wir haben jetzt den Humus, auf dem es weitergehen kann.«
Becker verweist auf einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung im vergangenen Herbst, mit dem das Konzept grundsätzlich befürwortet wurde. 10 000 Euro wurden bewilligt, um die Planung durch die Experten zu finanzieren. »Teile der Stadtverordnetenversammlung haben signalisiert, dass sie weiter mitziehen wollen«, sagt Becker. Ziel sei, dass die Stadt die noch zu gründende Genossenschaft unterstützt, das Projekt weiter vorantreibt, zu gegebenem Zeitpunkt dann auch über eine Bauleitplanung. Es gehe um eine Zukunftsaufgabe, die man jetzt nicht verschlafen dürfe, ist sich das Team einig.
Nun wollen sie einen Förderverein gründen, dann eine Genossenschaft, die auch Know-how und Kapital brauchen werde. Möglichst jeder soll sich daran beteiligen können. Die »neue Altstadt« ist ein Mammutvorhaben - noch ist nichts entschieden, sind viele Fragen offen. Doch die Ideen liegen auf dem Tisch, der Anstoß ist gegeben.