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Mit der Armbrust hinter der Tür

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Von: Ursula Sommerlad

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Vor dem Landgericht Gießen muss sich ein 47-Jähriger aus Leihgestern verantworten. Er hat sich Polizeibeamten mit einer Armbrust entgegengestellt. © Kays Al-Khanak

Weil er sich mit einer Armbrust in der Hand der Durchsuchung seiner Wohnung widersetzt hat, steht ein 47 Jahre alter Mann aus Leihgestern vor dem Gießener Landgericht. Hat er vorsätzlich abgedrückt? Und ist er überhaupt schuldfähig?

Ein freundlicher Empfang sieht anders aus. Zuerst standen die Polizisten vor der verschlossenen Wohnungstür und als die endlich aufging, schauten sie direkt in den Lauf einer gespannten Armbrust. Obwohl sich einer der Pfeile löste, ging der Einsatz am 7. September 2021 in Leihgestern für die Beamten glimpflich aus. Für den 47 Jahre alten Schützen hatte er gravierende Folgen. Der Mann sitzt in Untersuchungsaft in Weiterstadt, seit gestern muss er sich vor der 5. Großen Strafkammer des Gießener Landgerichts verantworten. Die Anklage lautet auf versuchte Tötung, bewaffneten Widerstand gegen Amtsträger und Verstoß gegen das Waffengesetz.

Der Angeklagte H. war wegen verschiedener Vorfälle schon länger ins Visier der Behörden geraten. Der Staatsschutz ordnete ihn der »Reichsbürger«-Szene zu, das Kommissariat für Vermögens- und Fälschungsdelikte plante eine Durchsuchung, zudem sollte ein Gerichtsvollzieher bei dem Mann vorstellig werden. Der Einsatz war koordiniert und vorbereitet. Einer der beteiligten Polizeibeamten, die gestern als Zeugen gehört wurden, hatte das Wohnumfeld des Angeklagten vor dem Einsatz ausgekundschaftet und dabei festgestellt, dass der Mann üblicherweise morgens gegen 8.30 Uhr seine Dachwohnung verließ.

Am 7. September sollte er vor der Haustür festgenommen werden. Das war der Plan. Doch H. ließ sich nicht blicken. Nachdem die insgesamt sechs Beamten bis 10 Uhr vor dem zweigeschossigen Haus mit fünf Mietparteien gewartet hatten, schritten sie zur Tat. Bewohner aus dem Erdgeschoss öffneten die Haustür, die Polizisten stiegen die Wendeltreppe hinauf und klopften unter dem Vorwand, dass sie von der Hausverwaltung seien.

Doch nichts geschah. Stille. Die Beamten wollten sich schon zum Gehen wenden, da bemerkte einer von ihnen Bewegung im Flur. »Ich habe direkt in den Lauf der Armbrust geschaut.« So beschrieb einer der Einsatzkräfte den Moment, in dem sich die Tür öffnete. Seine Kollegen, die hintereinander auf der schmalen Treppe standen, äußerten sich fast wortgleich. Das folgende Gerangel dauerte nur wenige Sekunden. Der Polizist, der direkt vor der Wohnungstür stand, riss seinen Schutzschild nach oben und warf sich gegen die Armbrust und den Mann, der sie hielt. Ein zweiter Kollege kam ihm zu Hilfe. Gemeinsam drängten sie den Schützen, der seine Hand über den Schild reckte und die Waffe auf die Beamten richtete, ins Wohnzimmer. Beim Versuch, H. die Armbrust zu entwenden, löste sich ein Pfeil. Er landete in der Decke.

Die rangelnden Männer kamen zu Fall. H. ließ sich am Boden widerstandslos überwältigen. Wie mehrere Polizeibeamte übereinstimmend berichteten, machte er einen verwirrten Eindruck. Er habe gestammelt, dass er gerade erst aufgewacht sei und dass er von einem Einbruch ausgegangen sei. Und er habe gesagt, dass er unter einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung leide.

Ob H. absichtlich abgedrückt hat oder ob sich der Schuss bei der Rangelei gelöst hat, vermochte niemand zu sagen. Nicht die Polizeibeamten und auch nicht der Angeklagte. Der äußerte sich nicht zur Tat, sondern überließ seinem Verteidiger Dr. Ulrich Endres das Wort. Sein Mandant habe sich zum Zeitpunkt des Einsatzes in einer äußerst problematischen psychischen Situation befunden, sagte der Strafverteidiger. »Er fühlte sich verfolgt von Gott und der Welt. Er wollte sich der Festnahme entziehen, ohne den Tod eines Beamten auch nur billigend in Kauf zu nehmen.« An Einzelheiten könne sich der Mandant nicht erinnern. H. konkretisierte diese Aussage: »Ich weiß noch nicht einmal, ob ich abgedrückt habe. Ich habe nur den Pfeil gesehen, der in der Decke gesteckt hat.« Es sei auch nicht seine Absicht gewesen, Widerstand zu leisten. »Ich bin ja gleich zurückgedrängt worden.«

Bei der Durchsuchung der Wohnung nach dem Einsatz stellte die Polizei eine Reihe von Waffen sicher: mehrere Messer, eine Schreckschuss-Pistole, ein Samurai-Schwert, Pfeil und Bogen, fast alles legal. Nicht jedoch die drei Wurfsterne, die sich ebenfalls in der laut Zeugenaussagen sehr vernachlässigten Wohnung fanden.

Der Prozess wird fortgesetzt.

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