Mission Bürgerbeteiligung

Eine Zerreißprobe wie den Streit um das Logistikzentrum will in Lich niemand jemals wieder erleben. Deshalb gibt es seit vergangenem Sommer eine Bürgerbeteiligungscharta. Und seit einem Monat im Rathaus eine Koordinatorin, die die neuen Spielregeln mit der Stadtgesellschaft einüben soll. Tina Lenz hat sich einen ehrgeizigen Zeitplan gesetzt.
Ihr Büro im Erdgeschoss des Licher Rathauses wirkt noch ein bisschen karg. Bilder aufhängen - dazu ist Tina Lenz an ihrem neuen Arbeitsplatz noch nicht gekommen. Es gab dringendere Sachen zu erledigen. Die Diplom-Politologin aus Marburg soll in Lich Pionierarbeit leisten. Sie soll Spielregeln der Bürgerbeteiligung einüben und etablieren. Eine Aufgabe, die Bürgermeister Dr. Julien Neubert für dringend notwendig hält. »Lösungen sollten über Kommunikation gefunden werden und nicht über öffentliche Stimmungsmache«, findet er.
Tina Lenz war zuletzt Fallmanagerin für Menschen mit Behinderung beim Jobcenter im Kreis Marburg-Biedenkopf. »Eine wichtige Aufgabe«, sagt sie. »Aber die Stelle in Lich konnte ich mir nicht entgehen lassen.« Am 1. Februar hat sie ihr neues Büro bezogen.
Mit Bürgerbeteiligung hat sich die Politikwissenschaftlerin noch während des Studiums als Praktikantin beim Online-Portal »abgeordnetenwatch« beschäftigt. Sie kennt sich mit öffentlicher Verwaltung aus und mit Kommunalpolitik, denn sie war bis 2011 einige Jahre lang Gemeindevertreterin. »In meiner Jugend«, berichtet die 39-Jährige und lacht. Sie ist also gut vorbereitet auf das Spannungsfeld zwischen Bürgern, Verwaltung und Politik, das künftig ihr Arbeitsbereich sein wird. »Frau Lenz war die Beste der Besten«, erinnert sich der Bürgermeister an das Auswahlverfahren, bei dem aus einer zweistelligen Zahl an Interessenten schließlich sechs zum Bewerbungsgespräch eingeladen wurden.
Gleich an ihrem ersten Arbeitstag in Lich hat die Marburgerin zwei dicke Leitzordner auf ihrem Schreibtisch vorgefunden, darin dokumentiert der monatelange Prozess, der im vergangenen Jahr zur Verabschiedung der Bürgerbeteiligungscharta geführt hat. Ein dritter Ordner ist in den vergangenen Wochen bereits hinzugekommen.
Lenz kennt Lich von früheren Besuchen. Ehe sie sich auf die Koordinatorenstelle bewarb, hat sie sich in der Stadt erneut umgeschaut. Das Wayfair-Logistikzentrum, das die Stadt 2019 in zwei Lager spaltete und den Anstoß zum Bürgerbeteiligungsprozess gab, konnte sie nicht übersehen. Außerdem hat sie sich über das Stadtparlament informiert. Ihre Prognose: »Sechs Fraktionen, das wird eine Aufgabe.« Aber sie nimmt sie gerne an, auch wegen der vielen engagierten Gruppen. »Eine Kleinstadt mit großem Potenzial«, sagt Lenz über ihre neue Wirkungsstätte.
Die Koordinatorin hat die ersten Wochen im Job genutzt, um sich einen Überblick über ihre Aufgaben zu verschaffen und einen Zeitplan aufzustellen. Der ist so stramm, dass Frank Arnold, der Leiter des Fachbereichs 1 und ihr direkter Vorgesetzter, fast ein wenig skeptisch den Kopf wiegt. Noch vor den Sommerferien würde Lenz gerne den Beteiligungsbeirat konstituieren, nach den Sommerferien den Vorhabenplan in die Stadtverordnetenversammlung einbringen. »Das ist das Ziel«, sagt die 39-Jährige, die ihre Arbeitsweise als »sehr strukturiert und termintreu« beschreibt. Diesmal nickt Arnold. Dass die neue Mitarbeiterin konsequent und hartnäckig ist, kann er bereits nach wenigen Wochen bestätigen.
Im zu gründenden Beteiligungsbeirat sollen neben Vertretern der Fraktionen und der Verwaltung auch elf Bürgerinnen und Bürger sitzen, Mindestalter 14 Jahre. Sie können sich teils dafür bewerben, teils werden sie aus dem Melderegister ausgelost. Das Zufallsprinzip soll dafür sorgen, dass auch Leute mitwirken, die sich sonst eher nicht in den öffentlichen Diskurs einmischen.
»Da müssen wir ein bisschen die Angst nehmen«, weiß Lenz. Aber sie ist überzeugt, dass sich die Menschen im Grunde gerne einbringen, wenn sie nur genügend Wertschätzung erfahren. »Deine Meinung zählt«, das ist die Botschaft, die die neue Koordinatorin vermitteln möchte. Dazu gehöre auch die klare Information, wie weit der Gestaltungssspielraum der Bürger reicht. »Nicht alles ist ein Fall für die Bürgerbeteiligung«, sagt Hauptamtsleiter Arnold. Und auch Bürgermeister Neubert unterstreicht, dass die Bürgerbeteiligung die Arbeit der städtischen Gremien begleitet und ergänzt, aber nicht ersetzt.
Ihre neuen Kollegen in der Stadtverwaltung hat Tina Lenz bereits kennengelernt. Als nächstes will sie den Kontakt zu den Ortsbeiräten suchen und sich in die Quartiersentwicklung in Muschenheim einbringen. Die Begegnung mit Menschen ist ein Aspekt, den sie an ihrer neuen Aufgabe zu schätzen weiß. Und es gibt noch eine Sache, die ihr wichtig ist: »Dass man etwas bewegen kann.« FOTO: US