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Mehr Einsätze, mehr Behandlungen

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Von: Christina Jung

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Im Juni schloss der letzte ÄBD-Standort im Kreisgebiet. Seit dem hat sich die schwierige Situation im Rettungsdienst und in der Notaufnahme der Licher Asklepios-Klinik weiter verschärft. ARCHIV © Tina Jung

Immer mehr Arbeit in einer Schicht. Immer mehr zu versorgende Bagatellen bei konstanter Anzahl echter Notfälle. Die Situation im Rettungsdienst und in der Notaufnahme der Asklepios-Klinik ist schwierig. Die Schließung des ÄBD-Standortes im vergangenen Jahr hat das Ganze weiter verschärft.

Als vor einem Jahr die geplante Schließung des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes (ÄBD) in Lich und damit die Aufgabe des letzten verbliebenen Standortes im Landkreis bekannt wurde, ging ein Aufschrei durch Politik und Gesellschaft. Von einer Schwächung des ländlichen Raums war die Rede, eine Überlastung von Rettungsdienst und Notaufnahme wurde befürchtet. Gegen die Entscheidung der Kassenärztlichen Vereinigung formierte sich Protest - ohne Erfolg. Ein Dreivierteljahr nach Schließung des ÄBD an der Asklepios-Klinik steht fest, dass die Befürchtungen nicht unbegründet waren.

Die Johanniter im Landkreis Gießen äußerten dieser Tage im Gespräch mit Politikern die Sorge darüber, dass viele Beschäftigte im Rettungsdienst nach wenigen Jahren den Beruf wechselten, was nach der Schließung der Ärztlichen Bereitschaftsdienste im Landkreis deutlich zugenommen habe, wenn auch diese nicht der einzige Grund für die vielfach aus Überlastung getroffene Entscheidung sei. »Immer mehr Einsätze in einem Dienst, in einer Schicht bei konstanter Anzahl ›echter Notfälle‹ aber einer stark zunehmenden Anzahl von rettungsdienstlich nicht relevanten Einsätzen«, seien die Ursache für die Überlastung, sagt auf Anfrage Miriam Feuerstein, beim Regionalverband Mittelhessen der Johanniter-Unfall-Hilfe zuständig für Presse und Öffentlichkeitsarbeit.

»Wir fahren zunehmend häufig zu vermeintlichen ›Befindlichkeitsstörungen‹, sprich zu Klienten, die zweifelsfrei eine medizinische oder pflegerische Dienstleistung benötigen - durchaus auch zeitnah«, so Feuerstein. Dabei handele es sich aber nicht um Notfälle im Sinne der »Abwendung schwerer oder gar lebensbedrohlicher Erkrankungen oder Verletzungen«. Vielmehr gehe es um (temporär) nicht oder nicht ausreichend verfügbare andere medizinische Versorgungsstrukturen, wie Hausärzte, ambulante Pflegedienste, ärztliche Bereitschaftsdienste oder Krankenhäuser. Das Thema Personalmangel spielt dabei aus Sicht der Johanniter eine führende Rolle, gepaart mit dem zunehmenden Unvermögen der Gesellschaft zur Selbsthilfe und einem gestiegenen Anspruchsdenken.

Beim DRK Rettungsdienst Mittelhessen hat man mit den gestiegenen Einsatzzahlen ebenfalls eine Arbeitsverdichtung wahrgenommen, wie Sabine Grebe von der Öffentlichkeitsarbeit sagt. Die Schließungen der Ärztlichen Bereitschaftsdienste im Landkreis sei allerdings nur ein Grund dafür. Daneben nennt Grebe den infolge der Corona-Pandemie erschwerten Arbeitsalltag, die Situation in den Kliniken, die hausärztliche Versorgung im ländlichen Raum oder die Zentralisierung der Krankenhäuser.

Der Landkreis Gießen, Träger des Rettungsdienstes, bestätigt die gestiegenen Einsatzzahlen (siehe Kasten) ebenso wie die angeführten Gründe. »Wenn kein Hausarzt oder kein ÄBD zu Verfügung stehen, wird manchmal auch wegen Erkrankungen der Rettungsdienst gerufen, die bei einem niedergelassenen Arzt behandelt werden könnten«, sagt Kreis-Pressesprecher Dirk Wingender. Spürbar sei ein Anspruchsverhalten der Menschen, eine Erwartung, dass der Staat in jeder Lage hilft. Der Notruf werde in Bagatellfällen genutzt. Daneben trügen mehr Einwohner, der demografische Wandel, die angespannte Personalsituation in der Pflege und die Spezialisierung der Krankenhäuser zu höheren Einsatzzahlen bei.

»In den vergangenen Monaten haben sich unsere Behandlungszahlen in der Notaufnahme gesteigert«, sagt Dr. med. Daniela Heß, Ärztliche Leitung der Zentralen Notaufnahme der Asklepios-Klinik in Lich, und macht dafür die Schließung des ÄBD-Standortes am Krankenhaus verantwortlich. Dieser habe »ganz klar Auswirkungen auf die Inanspruchnahme unserer Zentralen Notaufnahme«, Bei vielen Fällen handele es sich mittlerweile um Patienten, die mit ihren Beschwerden gut in der hausärztlichen Versorgung aufgehoben wären. In der Notaufnahme dagegen bänden sie wichtige Kapazitäten, die eigentlich für die Behandlung schwerwiegender Notfälle vorgesehen seien.

Für die Mitarbeiter bedeute dies mehr Arbeit, denn bei allen Patienten in der Notaufnahme erfolgt eine Einschätzung - das heißt eine der Schwere der Erkrankung und/oder Verletzung angemessene Behandlung. »Bei einem höheren Aufkommen an Patienten erhöht sich automatisch die Zahl der Ersteinschätzungen und Behandlungen, was eine hohe Arbeitsbelastung für unsere Mitarbeitenden mit sich bringt«, sagt Heß.

Vermehrte Kündigungen nach der Schließung des ÄBD seien aber nicht registriert worden. Dennoch trügen solche Entscheidungen und die damit verbundenen Auswirkungen nicht zu mehr Attraktivität von Notaufnahme oder Rettungsdienst bei.

Wie der aktuellen Situation begegnet werden kann? Beim DRK wünscht man sich »mehr Eigenverantwortung und eine höhere Kompetenz im Umgang mit gesundheitlichen Fragen« in der Bevölkerung bei einer gleichzeitigen stärkeren regionalen Vernetzung der verschiedenen Sektoren im Gesundheitssystem - Rettungsdienst, Hausärzte, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser - sowie die Überwindung bisheriger Systemgrenzen.

In der Asklepios-Klinik setzt man auf die geplante Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland, die integrierte Notfallzentren und Leitstellen vorsähen. Diese Vorschläge zielten auf die Zusammenarbeit zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Notaufnahmen der Krankenhäuser, um Patientenströme bestmöglich zu steuern. Heß: »Dieses System hat in Lich mit der ÄBD-Zentrale in direkter Anbindung an die Klinik bestens funktioniert und war zukunftsweisend.«

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