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Mehr als ein Dach über dem Kopf

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Von: Ursula Sommerlad

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In der Alten Schule in Annerod hat die Ukraine-Hilfe Fernwald ihren »Marktplatz« eröffnet. © Ursula Sommerlad

Für rund 30 Menschen aus der Ukraine ist Annerod zu einem Zufluchtsort geworden. Hier werden sie mit offenen Armen und gut strukturierten Hilfsangeboten empfangen.

Punkt 14 Uhr wird es lebhaft in der Alten Schule von Annerod. Und wenn sich die Tür öffnet, heißt es nicht nur »Hallo«, sondern manchmal auch »Zdravstvuyte«. In nur wenigen Tagen hat sich der Saal, in dem lange Jahre der Gesangverein »Heiterkeit« zu Hause war, in ein Warenlager verwandelt. R und 30 Menschen aus der Ukraine haben in den vergangenen Wochen in Annerod ein Dach übe r dem Kopf gefunden. Aus ihrer Heimat, in der der Krieg tobt, konnten sie nur das Allernötigste mitbringen. Für den schwierigen Start in der Fremde finden sie in der Alten Grundschule, was man im Alltag so braucht. Eine neue Hose, ein paar Schuhe, Hygieneartikel, Windeln, H-Milch oder Konserven. Ein Helferkreis, der eher spontan zusammengefunden und die Ukraine-Hilfe Fernwald ins Leben gerufen hat, macht’s möglich.

Julia Kukolew, Johanna und Tobias Hennemuth und Lydmyuda de Crouppé, die von allen nur Mila genannt wird, sind auf ganz unterschiedliche Weise mit den Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine konfrontiert worden. Die Hennemuths und Julia Kukolew, weil in der Nachbarschaft Flüchtlinge untergekommen sind; Mila de Crouppé, weil sie selbst aus der Ukraine stammt und seit dem ersten Tag der Invasion in der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen hilft. Zunächst haben sie alle allein vor sich hingearbeitet. Doch bald reifte die Erkenntnis, dass es effektiver wäre, diese Hilfe zu strukturieren.

Das erste Vorgespräch ist noch gar nicht so lange her. »Am 19. März«, sagt Johanna Hennemuth nach einem Blick auf ihr Smartphone. Seitdem hat sich viel getan. Die Helfer haben die Aufgaben untereinander aufgeteilt. Sie haben in Absprache mit der Gemeinde den Raum in der Alten Grundschule ausgestattet und mit Spenden bestückt. Sie haben nicht nur eine zentrale Telefonnummer und Mail-Adresse, sondern auch Gruppen bei Facebook, WhatsApp und Telegram eingerichtet und Flyer in der Gemeindeverwaltung ausgelegt, um neu ankommende Ukrainer auf ihr Angebot aufmerksam zu machen.

Am 24. März hatten die Initiatoren den Schlüssel für die Alte Schule in der Hand, nur vier Tage später eröffnete dort der »Marktplatz«, wie die Helfer ihr Angebot nennen. Sie haben, wie sie sagen, ganz bewusst einen einladenden Namen gewählt. Auch Mila de Crouppé hält sich an diese Strategie. »Beim Übersetzen sage ich Lädchen«, erzählt sie.

Geöffnet ist der »Marktplatz« an sechs Tagen für jeweils zwei Stunden, Dienste übernehmen Einheimische und Ukrainer gemeinsam. »Hier gibt es nur Sachen, die wir auch selbst nehmen würden«, betont Johanna Hennemuth, die die Organisation übernommen hat. Second-Hand-Unterwäsche wird zum Beispiel nicht angeboten; bei Bedarf erhalten die Leute Gutscheine, die aus Geldspenden finanziert werden. 500 Euro wurden zum Beispiel jüngst bei der Veranstaltung »50 Jahre Fernwald« gesammelt.

Gibt es Artikel, die noch dringend gebraucht werden? Die Organisatorin schüttelt den Kopf. »Eigentlich nicht.« Für die 30 Leute, die aktuell in Annerod untergebracht sind, sei das Angebot mehr als ausreichend. Aber man rechne mit wachsendem Bedarf. »Das ist typisch für meinen Mann«. sagt Johanna Hennemuth. Er ist bei der Feuerwehr und den Ereignissen gern einen Schritt voraus.« Momentan konzentriert sich die Unterbringung von Ukrainern auf Annerod. »Wir haben bislang noch keine Nachricht, ob auch Leute in Steinbach oder Albach untergekommen sind«, sagt Tobias Hennemuth. Aber man verstehe den »Marktplatz« als Angebot für die gesamte Großgemeinde Fernwald und sei auch gerne bereit, bei den Sachspenden mit anderen Kommunen zu kooperieren. So habe man den Kontakt zur Gemeinwesenarbeit beim ZAUG gesucht, zudem bestehen Verbindungen nach Lich.

Neben dem Marktplatz entwickelt die Ukraine-Hilfe Fernwald weitere Initiativen. Schon zweimal hat im Ev. Gemeindehaus ein gemeinsames Kaffeetrinken stattgefunden, außerdem gibt es die Idee, dort zweimal wöchentlich einen selbst organisierten Kinderhort ins Leben zu rufen, bei dem sich die Mütter reihum bei der Betreuung abwechseln. Der »Hilfe zur Selbsthilfe« dient auch eine geschlossene Telegram-Gruppe, in der sich die Ukrainer untereinander austauschen können.

Den Helfern aus Annerod ist es bisher gelungen, fast alle Neuankömmlinge in eigene Wohnungen zu vermitteln, die bei Bedarf auch länger genutzt werden könnten. Bisher sei die Akquise von Wohnraum eigentlich gar nicht so schwierig gewesen, erzählt Tobias Hennemuth. Das Rezept für diesen Erfolg: persönliche Beziehungen und direkte Ansprache. »Die Leute verlassen sich lieber auf Mundpropaganda.« Julia Kukolew, bei der die Fäden zusammenlaufen, ist jedenfalls zuversichtlich: »Wir können noch mehr Menschen unterbringen.«

Kontakt zur Ukraine-Hilfe Fernwald: Telefon 0641/ 480 875 98, E-Mail ukraine. hilfe.fernwald@gmail.com.

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