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»Man kann nicht wegsehen«

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Von: Jonas Wissner

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Im August wollen Lara (oben links) und Lucie Gruber (oben rechts) erneut Geflüchteten auf Lesbos vor Ort helfen. Die Fotos links zeigen Eindrücke ihrer Fahrt im Oktober, damals hatten sie auch Sachspenden gesammelt. © pv

Für ihre Spendenaktion und den Hilfskonvoi für Geflüchtete auf Lesbos haben Lara und Lucie Gruber aus Krofdorf-Gleiberg viel Zuspruch erhalten. Nun wollen sie erneut aufbrechen. Lara Gruber berichtet über die Lage vor Ort - und mahnt, das dortige Leid nicht zu vergessen.

Verwüstete Orte ohne Trinkwasser, ohne funktionierende Infrastruktur. Tote und Verletzte. Kaum fassbares Leid: Die Flutkatastrophe in Westdeutschland bewegt viele Menschen und fördert Verzweiflung zutage, wie sie in Deutschland wohl seit Jahrzehnten ohne Beispiel ist. Lara Gruber war für einige Tage im Rhein-Sieg-Kreis, hat mit angepackt, Häuser von Schlamm und zerstörten Möbeln befreit. »Menschen haben dort alles verloren«, sagt die 21-Jährige.

Hilfe wird vor Ort dringend gebraucht, die Bereitschaft dafür ist auch im Kreis Gießen groß. »Ich kann gut verstehen, dass Menschen Geld, das sie über haben, nun für Deutschland verwenden«, äußert sich Gruber im Gespräch. »Leid und Leid will man nicht abwägen.« Doch sie würde sich wünschen, dass auch eine andere, schon weit länger anhaltende Katastrophe am Rande Europas nicht vergessen wird: das Leid der Geflüchteten auf Lesbos.

Am 11. oder 12. August wollen die Krofdorferin und ihre 19-jährige Schwester Lucie sowie sieben Begleiter, darunter auch ihre Mutter, nach Lesbos aufbrechen, für den 21. August ist die Heimreise geplant. Die Flüge seien gut versichert, falls etwa die Corona-Lage in Griechenland noch einen Strich durch die Rechnung mache, so Lara Gruber. Es ist bereits die zweite Reise der Schwestern auf die Insel. Ihre Spendenaktion für Geflüchtete im Camp Kara Tepe auf Lesbos und der daraus entstandene Hilfstransport im Oktober haben ihnen viel Anerkennung, Ehrungen und Medienanfragen eingebracht. »Wir konnten nicht immer so gut damit umgehen, manchmal war es mir zu viel«, verrät Gruber. »Wir haben es ja auch nicht wegen der Aufmerksamkeit gemacht.«

Andererseits: »Es war auch eine Chance, über Medien aufmerksam zu machen - manchmal denke ich, wir hätten das mehr nutzen sollen.« Doch gerade direkt nach der Rückkehr habe sie kaum über das Erlebte sprechen können. »Nach der Fahrt hat man sich so ohnmächtig gefühlt.« Der Alltag in der Heimat und die Erfahrungen im Camp hätten einfach nicht zusammengepasst. »Es war manchmal schwierig zu verstehen, dass man etwas Gutes getan hat«, sagt Gruber und erinnert an Szenen aus dem Lager: »Wir haben Sachen aus unserem Rucksack verteilt - und irgendwann war er leer. In meinen Träumen habe ich die Leute gesehen, die leer ausgegangen sind. Sie waren nicht aggressiv, aber verzweifelt.«

Gruber findet: »Wenn wir einer Familie helfen, hat es sich für uns schon gelohnt. Man darf nicht vergessen, wie viel ein Menschenleben wert ist.« So haben die Schwestern Kontakt zu einer syrischen Familie geknüpft. Die älteren Söhne seien schon seit Jahren in Deutschland, der Rest der Familie noch immer auf Lesbos, wo manche für Jahre in der Ungewissheit strandeten. Der Vater sei schwer herzkrank, brauche dringend eine Operation. Die Grubers übernehmen etwa Anwaltskosten.

Diesmal hat die 21-Jährige schon eine Vorstellung davon, was sie vor Ort erwartet. »Wir haben nun mehr über uns selbst gelernt, können besser mit der Situation umgehen.« Bei der Hilfsaktion möchte das aus mehreren Städten stammende Team nun anders vorgehen: Statt Sachspenden nehmen sie nur Geldspenden an. Das habe den Vorteil, dass der logistische Aufwand geringer sei, etwa Fährkosten entfallen. Außerdem wollen sie so gezielt auf Lesbos einkaufen, die lokale Wirtschaft unterstützen - denn auch die Einheimischen litten unter der Situation. »Wir haben viele Griechen getroffen, denen es sehr schlecht geht.« Tourismus und Gastronomie seien eingebrochen.

Auch sollen die Spenden nun gezielter verteilt werden. Der Plan: Zweierteams besuchen jeweils fünf Zelte pro Tag, kümmern sich individuell um deren Bewohner. So könne man rund 200 Zelte in zehn Tagen schaffen. »Wir haben verstanden: Man kann nicht allen helfen«, bekundet Gruber. Mit manchen Bewohnern des Camps stehen die Schwestern in engem Kontakt, mit einem schreibe sie fast täglich, sagt Lara Gruber. »Er möchte kein Geld. Es geht darum, dass ihn jemand bestärkt, dass die Flucht die richtige Entscheidung war. Ich sage ihm oft: Du bist nicht schuld, wolltest das Beste für deine Familie.« Nun erwarte seine Frau ein Kind. Es soll Lara heißen, »das berührt mich sehr«.

Die Not auf Lesbos hält an. Doch in den Medien ist davon seit Monaten kaum die Rede. Die weltumspannende Corona-Krise, nun auch die Katastrophe in Westdeutschland haben das Sterben von Geflüchteten im Mittelmeer, die unwürdige Situation der auf Lesbos Gestrandeten weiter aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten lassen. »Ich kann es verstehen: Wenn die Menschen nicht Bescheid wissen, fühlen sie sich nicht angesprochen,« sagt Gruber. Im September, kurz von der Ankunft der Schwestern, hatte das dortige Leid plötzlich Aufmerksamkeit erregt: Ein Brand zerstörte das Camp Moria, wo Tausende lebten. Als sie ankamen, sei das Camp Kara Tepe, das sie nun wieder besuchen, noch relativ neu gewesen, habe auf den ersten Blick »gar nicht so schlecht ausgesehen«, berichtet Gruber. Doch schon damals seien die hygienischen Zustände prekär gewesen.

Nach einem kalten, stürmischen Winter habe sich die Situation der Geflüchteten »drastisch verschlechtert«. Gruber: »Kinder stehen teils bis zum Bauchnabel im Schlamm, ich bekomme Fotos von Essen mit Maden drin. Die Menschen werden wie Tiere behandelt - und niemand tut etwas dafür, dass die Lage verbessert wird.« Sie bezweifelt, dass die Verteilung von Hilfsgütern dort immer mit rechten Dingen zugeht. Dass oft zwischen »Wirtschafts-« und »Kriegsflüchtlingen« unterschieden wird, kritisiert Gruber. »Ich habe keine Menschen getroffen, bei denen man nicht verstehen kann, warum sie fliehen.«

Helfen, wo es nötig ist - das ist für die beiden jungen Frauen schon jetzt eine Lebensaufgabe geworden. Erfahrungen mit Not hat Lara Gruber auch in Kolumbien gemacht, als 16-Jährige nach einem Aufenthalt dort Spenden für krebskranke Kinder gesammelt. Es folgte die Hilfe für Lesbos, für Flutopfer in NRW, nun »Lesbos 2.0«. Über Engagement, das sie davon abgesehen leistet, will sie gar nicht groß reden. »Wenn ich manches nicht gesehen hätte, könnte ich bestimmt unbeschwerter Leben«, sagt sie. »Sobald man vor Ort ist und das Leid ein Gesicht bekommt, kann man nicht wegsehen. Wenn man die Augen erstmal geöffnet hat, kann man sie nicht mehr zumachen.« Sie fühle sich für die Lage der Geflüchteten verantwortlich. »Wir haben es zu unserem Problem gemacht.«

Natürlich seien sie und ihre Schwester manchmal von dem Engagement erschöpft. »Aber sich auszuruhen - das kommt nicht infrage.« Auch im Job will Lara Gruber etwas tun, das sie erfüllt: Sie studiert Lehramt, möchte Politik unterrichten. »Ich will junge Menschen politisch aufklären und sehe Bildung als wichtigen Schritt, damit es zu Verbesserungen kommt.«

Hat die Starkregen-Katastrophe Menschen in Deutschland für Not, die etwa auf Lesbos längst Alltag geworden ist, nun stärker sensibilisiert? »Ich würde mir wünschen, dass Menschen, die Leid spüren, ihr Herz auch für andere Menschen öffnen«, sagt Gruber. Für ihren Einsatz würden ihre Schwester und sie im Internet mitunter angefeindet. Gruber zeigt einen Kommentar: Sie habe den Kopf in den Wolken, solle lieber in der Heimat Not lindern, heißt es dort sinngemäß - und es gibt noch deutlich härtere Angriffe. Die 21-Jährige hat dazu eine klare Meinung: »Ich würde solche Leute gern mal einladen, mitzukommen, es sich selbst anzuschauen.« Für sie selbst steht fest: »Ich möchte eines Tages von dieser Welt gehen und sagen: Ich habe alles versucht.«

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