Wenn eine Kirche umzieht

In Lollar stand 492 Jahre lang eine Kapelle. Vor 50 Jahren wurde sie abgebaut und zehn Jahre später im Hessenpark wiedererrichtet. Von dort ist sie heute nicht mehr wegzudenken.
Es kommt nicht alle Tage vor, dass eine Kirche umzieht. Gut, Schüler der Gesamtschule Hungen kennen über die Schulpartnerschaft mit der Stadt Most aus Tschechien die Geschichte, dass dort die Kirche einem Kohletagebau weichen musste und dafür kurzerhand auf Schienen gestellt und ein paar hundert Meter weitergeschoben wurde. Aber ein Kirchenumzug in Mittelhessen?
Tatsächlich gab es ihn vor 50 Jahren. Startpunkt der Reise war Lollar. Dort stand seit 1480 eine Kapelle. Die hatten die Gläubigen errichtet, weil ihnen der allsonntägliche Weg zum Gotteshaus auf den Kirchberg zu weit wurde. Was man in Lollar übrigens unter einer Kapelle verstand, fand man in dieser Dimension in vielen anderen Dörfern nicht einmal als Kirche.
Über die Jahrhunderte wurde das sakrale Bauwerk immer wieder umgebaut. Bereits im 15. Jahrhundert kam der Dachreiter mit Turm hinzu, in den Jahrhunderten danach wurden Stück um Stück drei Emporen eingebaut, um alle Gläubigen aufnehmen zu können. Zuletzt bot sie rund 200 Plätze.
1949 zählte Lollar 4000 Einwohner, davon das Gros Christen. Die Kirche war damit viel zu klein geworden. Als die Gemeinde, die vorher zur Pfarrei Kirchberg gehört hatte, zur »Pfarrei Kirchberg II mit Sitz in Lollar« aufgewertet wurde, beschloss der Kirchenvorstand in Aufbruchsstimmung, dass nun ein Neubau her müsse. Die Firma Buderus spendete fast 78 000 DM, zudem kamen in vier Jahren weitere 100 000 DM an Spenden zusammen. 1957 wurde der Grundstein für den Neubau gelegt, am 6. September 1959 Weihe und Einweihung gefeiert.
Die alte Kapelle hatte damit ausgedient, der Zerfall begann. Vielleicht wäre sie irgendwann einfach abgerissen worden. Doch das Bauwerk hatte Glück, denn damals feilte man an der Idee für ein hessisches Freilichtmuseum. Landeskonservator Gottfried Kiesow prägte den Satz: »Nur die Gründung eines Freilichtmuseums kann die Rettung für die bereits abgebauten und künftig anfallenden Baudenkmale bedeuten.« 1974 wurde der Hessenpark eröffnet.
Bereits zwei Jahre zuvor wurde entschieden, dass die Lollarer Kapelle in diesen übersiedeln soll. 1972 wurde sie abgebaut und ging in Tausenden von Einzelteilen auf Reise. Die Kirche am Stück oder zumindest Wand für Wand mit einem Kran auf einen Laster zu hieven, war technisch noch nicht möglich. Und Schienen von Lollar nach Neu-Anspach zu verlegen, das war nicht bezahlbar.
Was nach dem Abbau geschah, ist bis heute ein Rätsel: Denn für fast ein Jahrzehnt war die Kirche »unbekannt verzogen«. Weder die Verantwortlichen im Hessenpark noch die des Denkmalamtes wissen, wo sich die Kirchenteile in dieser Zeit befanden. »Bis 1982 waren die Einzelteile der Kirche offensichtlich zwischengelagert, um erst zum Wiederaufbau ins Freilichtmuseum überführt zu werden«, sagte Carsten Sobik, Mitarbeiter der Fachgruppe Sammlung und Dokumentation zum 40-jährigen Jubiläum des Hessenparks.
Zwei Jahre dauerte der Wiederaufbau, bei dem auch 25 Lehrlinge des Niddaer Ausbildungszentrums der Bauwirtschaft mithalfen. 1984 wurde die zweite Einweihung gefeiert. Seitdem präsentiert sich die Kirche im Stil des 16. Jahrhunderts - also mit weniger Emporen als bei ihrem Abriss. Lediglich jene für die Orgel wurde wieder eingebaut. Das Instrument ist jedoch so filigran, dass es für die Besucher nicht zugänglich ist - denn wenn die Pfeifen nur einmal berührt werden, gibt es Misstöne.
Sowohl die Orgel als auch die Lollarer Kapelle werden an ihrem neuen Standort gebraucht. Das nicht nur, wenn wie kürzlich ein »Familientag Kirchenmusik« stattfindet. Dieses Jahr ist sie beispielsweise für vier Trauungen gebucht, für vier weitere Termine gibt es Anfragen, sagt Pia Preuß, Pressesprecherin des Hessenparks. Bereits seit einigen Jahren geben sich Menschen hier das Jawort, in Pandemiezeiten mussten allerdings einige Termine storniert werden.
Vor Corona fanden rund 80 Menschen auf den Bänken im Inneren Platz, derzeit hängt dies von den aktuell geltenden Regeln ab. Die Kirche ist bei Brautpaaren auch deshalb beliebt, weil sich im Anschluss vor der malerischen Kulisse des Hessenparks imposante Fotos machen lassen.
Lange Zeit fanden in der Kapelle die Adventskonzerte des Förderkreises statt. Noch heute ist sie Veranstaltungsort bei Märchentagen oder dem Dekanatsfamilientag. Außerdem dient sie als Ausweichquartier, damit der Gottesdienst »Kirche im Grünen« nicht zur »Kirche im Regen« wird.
Führte sie in Lollar zuletzt ein Schattendasein, hat die Kapelle sich in Neu-Anspach einen Platz als Besucherliebling gesichert. Preuß sagt: »Die Kapelle gehört zum Hessenpark fest dazu.«

