Stasi-Akte umfasst 3000 Seiten

Lollar (vh). »Ich wäre beinahe Bundesbürger geworden«, sagte Utz Rachowski in der Aula der Clemens-Brentano-Europaschule. Dort saßen Schülerinnen und Schüler aus den Klassen zehn, zwölf und 13. Der Zeitzeuge des Stasi-Terrors berichtete. Mucksmäuschenstill lauschte man. Es war fast unwirklich, dass junge Menschen über einen längeren Zeitraum so konzentriert zuhörten und nachher noch viele Fragen stellten.
Ebenso irreal hörte sich das soeben Vorgetragene an. Weil jedoch das Vogtland, eine Landschaft in Sachsen, nach dem Zweiten Weltkrieg der Sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen wurde, wuchs Rachowski in der DDR auf. Nach Bayern sind es nur 60 Kilometer.
Mit 16 Jahren das erste Verhör
Seinem großen Vorbild und älteren Bruder eiferte er nach und besuchte ab der achten Klasse die erweiterte Oberschule in Reichenbach, Kreisstadt des Vogtlandkreises. Dies sollte der Anfang vom Ende seiner Biographie als Bürger der DDR sein. Mit Zahlen hatte es der Jugendliche nämlich gar nicht, Texte waren sein Ding. Für ihn und einer Handvoll Gleichgesinnter bedeuteten eigene Gedichte oder Schriften von Autoren, die im Unterricht verpönt waren, etwa Reiner Kunze und Wolf Biermann, alles.
Die Gruppe traf sich nachmittags außerhalb der Schule. Sie flogen auf und er wurde als Rädelsführer gebrandmarkt. Mit 16 Jahren hatte Rachowski sein erstes Verhör durch die Stasi. Die wollte wissen, »wer sind ihre Auftraggeber im Westen?« und hätten darauf bestanden, es müsse eine westliche Beeinflussung dahinterstecken. Selbst der Elternbeirat machte sich beim Direktor für einen Ausschluss stark und argumentierte mit »ideologische Verseuchung der Klasse«.
So flog der junge Utz Rachowski von der Schule und war keine 24 Stunden später Hilfsarbeiter bei der Eisenbahn. Den Rauswurf hatte die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, unterzeichnet. Eine Lehrstelle konnte er in Reichenbach nicht finden. 40 Kilometer entfernt machte er eine Lehre zum Elektriker.
Vierzehneinhalb Jahre alt war er beim Einreißen des Grenzzauns in der Tschechos-lowakei. Am 20. August 1968 rollten sowjetische Panzer und andere Fahrzeuge durch die Stadt. Sein Bruder bremste in einem waghalsigen Manöver mit dem Motorrad einen Panzer aus.
Seine Kindheit sei an dem Tag zu Ende gegangen. Deshalb nennt er die Aufmarschstrecke »Straße der Kindheit«. Neun Jahre später hat die Stasi unter ihren insgesamt 111 Aktenkilometern auch 3000 Seiten über Rachowski gesammelt. Ein Freund verrät ihn. Aufgrund von fünf Texten wird er verhaftet und zu 27 Monaten Knast verurteilt. Einen Text namens »Thüringische Legende« hatte er dem Autor Kunze gewidmet, der 1977 ausgewiesen wurde. 1980 kauft ihn die Bundesrepublik aus der Haft frei, er wird ausgewiesen und kommt zunächst in das Aufnahmelager Gießen. Da er noch in der DDR das Abitur nachgeholt hatte, studiert Rachowski in West-Berlin und Göttingen Kunstgeschichte und Philosophie. Im Dezember 1989 sieht er seine Familie in der alten Heimat wieder. Heute arbeitet er als Schriftsteller und Berater für politische Opfer der DDR im Freistaat Sachsen.
Von der Fragerunde machen die Schüler eifrig Gebrauch. Ob es in der DDR etwas Positives gegeben habe. Weil die Leute nicht viel Urlaub hatten, hätten sie mehr miteinander geredet. »Es gab stabile Freundschaften.« Ob er körperliche Schäden durch die Haft habe? Unmittelbar danach Kreislaufstörungen und psychogenes Asthma. Ob es gut sei, wenn in Deutschland wieder eine Wehrpflicht eingeführt werde? »Das wäre schlimm aber vielleicht nötig.« Ob seine Vorstellung vom Westen sich bestätigt habe? Der Blick in die BRD sei geschönt gewesen, ein illusorisches Bild. »Das Leben war viel normaler.« Vor allem die Bürokratie habe ihn genervt.