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»Meine Seele will nach Hause«: Lollarer Schüler berichten von Fluchterfahrung

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Von: Jonas Wissner

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Oleksandr Suiarko schildert eindrücklich, wie er die Flucht vor dem Krieg erlebt hat. © Jonas Wissner

Krieg, Vertreibung, Flucht - diese leidvollen Erfahrungen ändern Leben gravierend. An der Lollarer CBES haben nun vier Schülerinnen und Schüler ihre bedrückenden Fluchtgeschichten vorgetragen.

Was bedeutet es, wenn die Heimat im Krieg versinkt, aus dem vertrauten Umfeld ein Ort des Schreckens wird? Wer das nicht erleben musste, vermag es sich kaum vorzustellen. Doch für viele Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, ist solche Erfahrung Teil der eigenen Biografie geworden - und es erfordert Mut, darüber zu sprechen.

Diesen Mut haben vier Schülerinnen und Schüler der Lollarer Clemens-Brentano-Europaschule (CBES) am Mittwoch aufgebracht und ihre Fluchtgeschichten in der CBES-Mediothek vor einigen Dutzend Zuhörern vorgelesen. Sie werden an der CBES in einer von fünf »DaZ-Klassen« (Deutsch als Zweitsprache) unterrichtet. Im Herbst haben sie sich in der »Intensivklasse« im Unterricht mit dem Begriff »Heimat« beschäftigt, wie Klassenlehrerin Sultana Barakzai erläuterte. In diesem Kontext seien auch die eigenen Erlebnisse aufgeschrieben worden. Sie zu erzählen sei eine Möglichkeit, »Identität zu bewahren«.

Schulleiter Andrej Keller wies auf den Unterricht in »interkultureller Bildung« hin. Die CBES ist als »Profilschule Kulturelle Bildung/Literatur« zertifiziert, auch eine Vertreterin des Kultusministeriums war am Mittwoch dabei.

Was es bedeutet, aus einem vom Bürgerkrieg gebeutelten Land zu fliehen, verdeutlichte die 14-jährige Ros Ibrahim. Sie ist in der syrischen Stadt Aleppo aufgewachsen, lebt seit einem Jahr in Deutschland. Einst habe sie ein »normales Leben« gehabt - doch »eines Tages gab es viele Bombengeräusche«, Fensterscheiben in ihrem Haus seien zersplittert. Mit 13 Jahren sei ihr klar geworden, »dass ich stark sein muss«, trug die Schülerin mit ruhiger Stimme vor. Ihr Vater sei an Corona gestorben, mit ihrer Familie habe sie sich schließlich auf den Weg nach Deutschland gemacht. »Ich war traurig«, sie wollte ihre Heimat nicht verlassen. Per Auto seien sie in die Türkei gefahren, dann in einem Lkw voller Menschen nach Deutschland, »man konnte kaum atmen«. »Das Wichtigste ist, dass ich schnell Deutsch lerne und Freunde finde«, betonte die 14-Jährige bei der Lesung. Nun habe sie endlich ein angenehmes und ruhiges Leben, »aber ich vermisse meine Heimat«. Sie will nun weiter Fuß fassen, vielleicht einmal Apothekerin werden.

Während der Krieg in Syrien kaum noch mediale Beachtung findet, bleibt der russische Angriff auf die Ukraine stärker im Bewusstsein. Der 24. Februar 2022 hat viele schockiert - für Oleksandr Suiarko hat er das bisherige Leben auf den Kopf gestellt: Der 15-jährige »Sascha« stammt aus einem Vorort von Kiew. Noch am Vorabend des Kriegsbeginns habe er mit seinem Vater über die »Wahrscheinlichkeit des Krieges gesprochen«, doch er selbst habe sich das kaum vorstellen können. Frühmorgens am 24. Februar sei er dann aufgewacht. »Ich dachte, es sei ein Erdbeben«, doch es waren Erschütterungen durch russische Raketen oder Granaten. Am Ende dieses einschneidenden Tages habe er zu schlafen versucht - »zumindest in eingebildeter Sicherheit«, aber auch im Wissen darum, dass »jede Sekunde ein Leben kosten« könnte.

Kurz darauf habe die Familie entschieden, die Ukraine zu verlassen und zu Verwandten nach Deutschland zu reisen. »Ich nahm einen Schraubenzieher und ein Klappmesser mit - nur für den Fall.« Auch viele andere Ukrainer flohen, wie ihm während der wegen Staus tagelangen Fahrt zur polnischen Grenze deutlich geworden sei: Hinter Autofenstern habe er etwa Kinderspielzeug, Katzenboxen und Kleidung gesehen, »das ganze Leben in ein Auto gepackt«.

Die ersten Monate in Deutschland seien schwierig gewesen, sagte Suiarko. »Es ist seltsam, dass ich mein Land nicht vermisse«, wohl aber seine Freunde. Er würde gern Programmierer werden, will sich auch politisch engagieren - und sorgte in der Mediothek zwischen bedrückenden Schilderungen für einen heiteren Moment: »Merken Sie sich meinen Namen, für alle Fälle!«

Auch Katerina Klymenko ist mit Verwandten aus der Ukraine geflohen, sie wohnt nun in Daubringen. Die 16-Jährige trug ihre Geschichte in der Hoffnung vor, »uns besser zu verstehen«. Nie vergessen werde sie das zu Kriegsbeginn aufgekommene Gefühl, »dass man gleich sterben könnte«. Über Wochen hätten sie und ihre Liebsten sich in Kellern versteckt, kaum geschlafen, kaum gegessen - »ein furchtbarer Traum«. Ihre Heimat Nikopol liegt nahe dem umkämpften Kernkraftwerk Saporischschja - für den Fall einer Nuklearkatastrophe seien schon Jodtabletten verteilt worden. Als die Familie gen Westen geflohen sei, habe sie nur einen Koffer mit dem Nötigsten mitgenommen.

Die DaZ-Klasse an der CBES habe ihr viel gegeben, hier erfahre sie Verständnis, so Klymenko. Sie empfinde Dankbarkeit gegenüber Deutschland - »aber meine Seele will wirklich nach Hause«. Ihr war es wichtig, zu zeigen, dass der Krieg längst nicht vorbei ist. »Ukrainische Frauen mit Kindern kommen hierher, um ihr Leben zu retten« - und nicht etwa, um Urlaub zu machen.

Auch Hania Shojaee, 15 Jahre alt, las bei gedämmtem Licht ihre bedrückenden Erfahrungen vor. Ihre Eltern seien einst aus Afghanistan geflohen, sie selbst im Iran aufgewachsen. »Wir lebten mit viel Angst, weil es große familiäre Probleme gab«, sagte sie. Schließlich habe die Familie sich Richtung Türkei aufgemacht, »wir sind 24 Stunden gelaufen, ohne Wassser, ohne Essen«. Dort aber habe ihr kranker Bruder keine Hilfe bekommen. Man habe Kontakt zu »Menschenschmugglern« aufgenommen, »sie nahmen viel Geld«. Dann seien sie und ihre Familie mit einem Transporter für Hühner weitergekarrt worden. Nach Stunden auf See in einem überfüllten Boot habe die griechische Polizei sie aufgenommen. Es folgten, wie Shojaee schilderte, Aufenthalte in mehreren Camps, wo Gewalt geherrscht habe, »es war sehr schlimm dort«. Nach drei Jahren hätten sie schließlich Ausweise bekommen - und es nach Deutschland geschafft.

Während die vier jungen Autoren ihre Geschichten offenbarten - und das nach teils nur wenigen Monaten Sprachunterricht in bemerkenswert gutem Deutsch -, war die Ergriffenheit des Publikums im schummrigen Licht spürbar. »Ihr seid ein Teil von uns«, betonte Schulleiter Keller - und dankte den jungen Literaten für den Mut, »euer Innerstes nach außen zu bringen«. Auch er selbst hat Migrationserfahrung, aber: »Ich hätte das in eurem Alter nicht geschafft.«

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