»Also rettet jemandes Leben!«

Lollar (mak). Am 14. September 1942 wurden die letzten jüdischen Bürger aus Londorf deportiert. Am selben Tag, 80 Jahre später steht Lawrence S. Bacow, Sohn der Londorfer Holocaust-Überlebenden Ruth Wertheim und amtierender Präsident der Harvard-Universität (Cambridge/USA), in der Aula der Clemens-Brentano-Europaschule in Lollar. Dort betont er, wie wichtig es ist, sich gegen Ungerechtigkeit zu erheben und für die Menschen einzutreten, die nicht in der Position sind, dies selbst zu tun.
»Dieser Tag ist für viele, viele Menschen«, sagt Bacow auf Englisch. Als er weiter spricht, bricht seine Stimme und er muss weinen: »Für mich aber ist der Tag nur für einen Menschen. Für Ruth Wertheim. Meine Mutter. Eine von sechs Millionen.«
Bacow hatte audrücklich darum gebeten, während seines zweitägigen Besuchs mit den Schülern ins Gespräch zu kommen. Seine Mutter habe lange Zeit nicht viel über ihre Jugend und den Holocaust erzählt, berichtet er. Nachdem die Mutter im Alter von 50 Jahren einen Herzinfarkt erlitten hatte, habe sie angefangen, mehr über ihre Vergangenheit zu sprechen.
Ruth Wertheim wurde zusammen mit ihrer Familie 1942 nach Theresienstadt deportiert. Nachdem sie 1944 zuerst nach Auschwitz verlegt und von ihrer Familie getrennt wurde, kam sie in das Zwangsarbeiterlager in Merzdorf. Von dort aus wurde sie als 18-Jährige dann befreit, doch die darauffolgende Zeit war nicht wesentlich leichter für sie. In der Hoffnung, dass ihre Schwester noch leben würde, reiste Ruth Wertheim zu Fuß zurück nach Londorf, lief ausgehungert und ohne Schuhe rund 500 Kilometer. »Es ist für mich unbegreiflich, wie meine Mutter es geschafft hat, das, was sie durchgemacht hat, hinter sich zu lassen. Sie war genauso alt wie ihr. Stellt euch vor, ihr würdet alles in eurem Leben verlieren. Eure Schwester. Eure Eltern. Eure Großeltern. Eure Freunde«, erzählt Bacow. Aber seine Mutter habe nie zugelassen, dass ihre Vergangenheit bestimmt, wer sie ist.
Die Geschichte seiner Familie und seine Stellung als Präsident einer der berühmtesten Universitäten der Vereinigten Staaten nutzt Bacow, um für diejenigen zu sprechen, die ebenfalls unter Diskriminierung leiden. Was damals während des Holocaust passiert ist, könne jederzeit wieder passieren, betont er. Minderheiten würden auch heute überall auf der Welt diskriminiert und ausgegrenzt.
»Die Demokratie ist überall auf der Welt bedroht. Wir sollten sie niemals für selbstverständlich halten. Deswegen ist Bildung so wichtig. Informiert euch über die Probleme dieser Welt und dann werdet aktiv«, appelliert er an seine Zuhörer in der CBES.
Daran anknüpfend erklärt Bacow den Schülern ein jüdisches Konzept, das es als Aufgabe der Menschen sieht, die Welt zu »reparieren«. »Wir verbessern die Welt durchs Wählen, aber auch in unserem privaten Leben. Manche Menschen werden vielleicht Lehrer, andere Aktivisten. Aber ganz egal, was wir in unserem Leben tun: Wir können daran arbeiten, die Welt zu reparieren.« Eine weitere jüdische Lehre, die Bacow den Zuhörern mit auf den Weg gibt, lautet: »Das Leben eines Menschen zu retten, ist gleichbedeutend mit der Rettung des gesamten Universums. Also rettet jemandes Leben! Entweder wortwörtlich oder gebt jemandem einen Job, der ansonsten keinen bekommen würde, werdet Arzt oder nehmt jemanden, der hungert, bei euch auf.« Seine Kernbotschaft: »Ich wünsche mir, dass die Zukunft besser wird als die Vergangenheit. Ich wünsche mir, dass wir die Vergangenheit nicht vergessen. Ich wünsche mir, dass Menschen ihre Stimmen gegen Ungerechtigkeit erheben!«
Am Mittwochnachmittag nahm Bacow an einer Gedenkfeier in Londorf teil (Bericht folgt).