Vorerst doch kein Türkisch-Unterricht an Schule: „Interesse leider sehr gering“

An der Lollarer CBES sollte nach den Sommerferien in einem Pilotprojekt Türkisch als zweite Fremdsprache angeboten werden. Doch es gab nur drei Anmeldungen.
Kassel – Künftig soll es an hessischen Schulen mehr Vielfalt und Wahlfreiheit bei Fremdsprachen geben: Ende Mai hat das Kultusministerium mitgeteilt, dass ab dem Schuljahr 2023/2024 neben - je nach Angebot der Schule - Englisch, Französisch, Latein, Spanisch, Italienisch, Russisch, Chinesisch, Polnisch und Altgriechisch auch Arabisch und Portugiesisch zu Unterrichtsfächern werden. Beides werde bei ausreichender Nachfrage als zweite oder dritte Fremdsprache angeboten.
Bereits im nächsten Schuljahr sollte außerdem in einem Pilotversuch an der Lollarer Clemens-Brentano-Europaschule (CBES) und einer Schule in Kassel Türkisch als zweite und dritte Fremdsprache unterrichtet werden. Doch zumindest in Lollar wird daraus nichts, wie CBES-Leiter Andrej Keller auf GAZ-Anfrage erläutert: »Leider war das Interesse von Schülern und Eltern, Türkisch als zweite Fremdsprache im nächsten Schuljahr zu wählen, sehr, sehr gering.«
Kreis Gießen: Türkisch-Angebot an Schule in Lollar vielleicht zu spontan
Die Mindestteilnehmerzahl liege bei sieben Schülern, doch es hätten sich nur drei angemeldet. „Also können wir den Pilotversuch nicht nach den Sommerferien starten.“
Einen guten Monat lang hätten die Schüler der künftigen siebten Klassen sich einwählen können, wie für alle neu einsetzenden Fremdsprachen habe es auch für Türkisch einen Elternabend und eine »Schnupperstunde« gegeben. »Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen«, kommentiert der Schulleiter. Vielleicht habe die Zeit gefehlt, »um für so eine tiefgreifende Änderung im Sprachangebot ausreichende Überzeugungsarbeit zu leisten und die Schulgemeinde nachhaltig mitzunehmen«.
Ganz neu wären Türkisch-Kurse an der CBES nicht: Schon jetzt gibt es laut Keller eine AG für Stufe neun. »Türkisch als zweite Fremdsprache heißt aber, dass es ein Hauptfach wird. Das ist eine andere Dimension - damit könnte man zum Beispiel eine Fünf in Mathe ausgleichen.« Für den Modellversuch sah er die Schule eigentlich gut gerüstet: In Dr. Irfan Ortac gebe es an der CBES einen Lehrer, der Unterrichtserfahrung in Türkisch aus Nordrhein-Westfalen mitbringe, das Fach dort auch in der Oberstufe unterrichtet habe. »Und er hat - das ist mir besonders wichtig - an politisch neutralen Lehrwerken mitgewirkt«, betont Keller.
CBES in Lollar (Kreis Gießen): Modellversuch als offenes Angebot
Natürlich könne man Unterrichtsstoff nicht auf den Schultern nur eines Kollegen aufbauen, »aber irgendwie muss man ja den Anfang machen«. Denn noch gebe es keine in Hessen ausgebildeten Türkisch-Lehrer. »Die müssten wir zunächst aus anderen Bundesländern gewinnen.« Als zweite Fremdsprache sei Türkisch neben NRW etwa in Bremen und Berlin schon etabliert.
Zur Finanzierung von Personal und Lehrmaterial habe das Ministerium der Schule »jegliche Unterstützung zugesichert«, so Keller. »Bei den Unterrichtsinhalten sollen wir uns zu Beginn des Schulversuchs an dem vorliegenden Fachcurriculum Türkisch aus NRW orientieren« - und seitens der CBES sei man »sehr interessiert« daran, an einem hessischen Türkisch-Curriculum in Person von Ortac mitzuwirken.
Bereits seit Januar, so der Schulleiter, sei er über den Pilotversuch »im kontinuierlichen Austausch« mit dem Staatlichen Schulamt und dem Kultusministerium. Geplant sei der Modellversuch als offenes Angebot - »sowohl für Schüler, die familiäre Wurzeln in der Türkei und schon Grundkenntnisse haben, als auch für jene, für die es eine ganz neue Fremdsprache wäre«. Dass sich die Vorkenntnisse unterscheiden können, wäre aus Kellers Sicht praktisch kein Problem. In anderen Fremdsprachen würden ja auch »Native Speaker« unterrichtet, gibt er zu bedenken.
Türkisch lernen an Schule in Lollar: Vorteile im Beruf
Auch für Schüler mit Türkisch-Kenntnissen aus der Familie könnte das Angebot in Kellers Augen ein Gewinn sein: »Wenn in der Familie Türkisch gesprochen wird, heißt das nicht, dass die Schüler auch türkische Lyrik, türkische Zeitungen lesen oder stilsicher und fehlerfrei eine E-Mail auf Türkisch schreiben können.« Es gehe auch um die Vermittlung einer »Hoch- und Schriftsprache«. Ferner könne es manchen Schülern im Türkisch-Unterricht vielleicht auch gelingen, »leichter Erfolge zu feiern, weil sie schon Vorkenntnisse haben«. Dies würde laut Keller »das Selbstbewusstsein steigern und könnte auf die Leistungen in anderen Fächern positiv ausstrahlen«.
Der Schulleiter sieht auch einen Bedarf in der Wirtschaft: Er sei im Gespräch mit türkischstämmigen Arbeitgebern. »Die sagen: Es wäre ein Riesenvorteil, in Türkisch gut ausgebildete Mitarbeiter zu haben.«
Gleichwohl sei der Versuch schulintern nicht nur auf Begeisterung gestoßen: »Es gibt Bedenken von Fachlehrern für Latein, Französisch und Spanisch, dass durch das Türkisch-Angebot die Nachfrage nach diesen Sprachen sinkt«, berichtet Keller. Zumindest für das kommende Schuljahr hat sich dieser Einwand, der mehr Wahlfreiheit denn Konkurrenz bedeutet, nicht bestätigt: Laut Keller haben 64 künftige Siebtklässler Spanisch als zweite Fremdsprache angekreuzt, 19 Französisch und 14 Latein.
Kreis Gießen: Neuer Anlauf für Türkisch-Unterricht in Lollar im Schuljahr 2023/2024
Er berichtet von einem weiteren Einwand: »Es kam auch die Frage auf, ob Türkisch für Menschen, die dem ›türkischen Kulturkreis‹ angehören, überhaupt eine Fremdsprache sei.« Doch das basiere auf einer falschen Vorstellung. »Schüler, die hier geboren sind und deren Familien mittlerweile in der dritten oder vierten Generation hier leben, sind keine Türken«, unterstreicht Keller etwas eigentlich Selbstverständliches. »Sie sind Lollarer und Staufenberger.«
Der CBES-Leiter will für das Schuljahr 2023/2024 einen neuen Anlauf nehmen. Dafür habe auch die Schulkonferenz sich nun einstimmig ausgesprochen. Keller: »Ich hoffe, dass eine länger vorbereitete und kommunizierte Kampagne dann mehr Erfolg hat. Aber falls die Nachfrage auch im nächsten Jahr so gering ist, sind wir wohl die falsche Schule für diesen Pilotversuch.«
Das russische Generalkonsulat in Bonn wirft einer Schule in Lollar (Kreis Gießen) russophobes Verhalten vor. Die Clemens-Brentano-Schule sieht das anders.