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»Liegen - mehr konnte ich nicht«

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Von: Christina Jung

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Äußerlich ist Martina Grabowski nicht anzusehen, was sie durchgemacht hat. Im Gespräch mit ihr aber werden die Folgen des Schädel-Hirn-Traumas hin und wieder deutlich. © Tina Jung

Vor zwei Jahren stürzte Martina Grabowski vom Fahrrad, erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades. Ihre Erinnerungen waren weg, Sprachverstehen und Sprechvermögen ebenfalls. Mittlerweile hat sich die Salzbödenerin zurück ins Leben gekämpft und ihre Erlebnisse in einem Buch veröffentlicht.

Martina Grabowski sitzt auf der Couch in ihrem Gästezimmer und erzählt. Mitten im Gespräch bricht sie ab, schaut zur Decke, sucht in Gedanken nach dem richtigen Wort. Po - popo - poko - pokoto. Sie schweigt. »Protokollieren«, sagt sie dann, lächelt und berichtet munter weiter. Flüssig. Als wäre nichts gewesen. Als wäre alles ganz normal. Doch normal, so wie früher, ist ihr Leben seit gut zwei Jahren nicht mehr. Denn Martina Grabowski erlitt vor gut zwei Jahren ein Schädel-HirnTrauma dritten Grades und kämpft noch heute mit den Folgen. Ihre Erlebnisse hat sie aufgeschrieben und veröffentlicht: »Gehirn in Reparatur? Kreative Aphasie« lautet der Titel.

Es war der Abend des 18. April 2020, der Grabwoskis Leben, insbesondere ihr Gehirn, völlig durcheinander wirbelte. Sie und ihr Mann besuchten Freunde in Staufenberg, fuhren mit dem Fahrrad dorthin. Gegen 21 Uhr traten sie den Heimweg nach Salzböden an. Daran kann sich die 64-Jährige noch erinnern. Auch, dass sie nicht den Umweg über die Felder, sondern über die Straße fuhren, weil es regnete. Was dann geschah, weiß sie nur aus den Erzählungen ihres Mannes, der etwa 100 Meter hinter ihr radelte. Kurz vor Salzböden, genau genommen, nachdem die beiden Odenhausen durchquert hatten, stürzte Grabowski und rührte sich nicht mehr. War erst bewusstlos, später verwirrt. Sie hatte Schmerzen, blutete. Dass eine Autofahrerin anhielt, die 112 wählte, nach vier Minuten der Rettungswagen kam und etwas später der Notarzt, dass man sie lange untersuchte, bevor sie ins Gießener Uniklinikum gebracht wurde - all das entzieht sich ihren Erinnerungen. Und noch viel mehr.

Die folgenden drei Wochen erlebte Grabowski in einer völlig anderen Realität, wie sie sagt. Während Ärzte und Pfleger um ihr Leben kämpften, befand sie sich in einer Traumwelt. An Orten und mit Menschen, die nicht wirklich waren. Sie lag im Koma, wurde künstlich beatmet, mehrmals operiert. Das geringste medizinische Problem stellten Schlüsselbein- und Rippenbruch dar. Schwer wogen dagegen drei Schädelbrüche und zwei Gehirnblutungen, eine davon relativ groß. »Liegen - mehr konnte ich damals nicht«, erinnert sich die Salzbödenerin.

Nach vier Wochen im Krankenhaus folgten mehrere Rehas, insgesamt dauerten diese ein Vierteljahr. Ein Vierteljahr, in dem sich Grabowski mithilfe zahlreicher Therapien, der Unterstützung ihrer Familie und ihrem eisernen Willen langsam zurück ins Leben kämpfte. »Motorisch war ich relativ schnell wieder hergestellt«, sagt sie. Sprachverstehen und Sprechvermögen allerdings sind bis heute nicht auf Vor-Unfall-Niveau. Aphasie nennen Experten diese Erkrankung.

Im direkten Gespräch mit ihr wird das immer wieder deutlich, wird der Redefluss von Phasen des Schweigens unterbrochen. Mitten im Satz bricht Grabowski ab, überlegt, sucht nach Worten. Meist findet sie diese, zumindest auf Deutsch. »Die Fremdsprachen sind alle weg«, sagt die ausgebildete Sprachwissenschaftlerin, die sich später zur Sozialarbeiterin qualifizierte und Weiterbildungen im Bereich Psychotherapie machte. Sie beherrschte das Russische und Polnische, sprach Englisch und Französisch.

Was ihr auf dem Weg der Genesung half, war das Schreiben. Schon während der Reha begann sie, Erlebtes festzuhalten. »Ich wollte mir beweisen, dass ich meine Fähigkeiten noch besitze«, erzählt sie. Der Ehrgeiz trieb sie an. Mit den Aufzeichnungen verbesserte sich nicht nur ihre Sprachfähigkeit. Auch Erinnerungen kamen langsam zurück. Allerdings auch längst vergessen Geglaubtes. »Als ich wach wurde, war mein Gehirn völlig durcheinander«, berichtet Grabowski aus der Zeit nach dem Koma. Während Konflikte ihrer Jugend plötzlich wieder präsent waren, wollten ihr zeitnahe Geschehnisse einfach nicht einfallen. Grabowski: »Ich habe mich in dieser Welt nicht mehr zurechtgefunden.«

In ihrem Buch hat sie all das festgehalten. Ihre Veröffentlichung soll anderen Aphasie-Patienten helfen. Sie soll Mut machen. Aufzeigen, dass es einen Weg zurück ins Leben gibt. Grabowski möchte ihre Erfahrungen aber auch direkt mit Betroffenen, deren Angehörigen und/oder Menschen, die sich professionell mit dem Thema beschäftigen, teilen. In einer Selbsthilfegruppe etwa oder bei Vorträgen. Derzeit ist sie dabei, Kontakte zu knüpfen. Grabowski: »Ich möchte nicht für den Rest meines Lebens Patientin sein.«

In ihren Job im Allgemeinen Sozialen Dienst und der Heimaufsicht des Lahn-Dill-Kreises wird die Mutter zweier erwachsener Kinder wohl nicht mehr zurückkehren. Vier Monate vor ihrem offiziellen Renteneintritt endet der Status ihrer Befristung.

Ob sie noch Fahrrad fährt? Ja, sagt Grabowski. Nach wie vor sehr gerne und viel. Heute allerdings mit Helm. Auch wenn er sie stört.

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