Arzt-Termine im Kreis Gießen per App: Sensible Patientendaten missbraucht?

Eine Ärztin im Kreis Gießen bietet ihren Patienten an, Termine über die App Doctolib zu vereinbaren. Der Anbieter steht in der Kritik, will die Probleme mittlerweile aber behoben haben.
Lich – Wer mit Susanne Puchers Zahnarztpraxis in Lich einen Termin vereinbaren will, ruft an, kommt vorbei - oder greift neuerdings auf eine App zurück: Doctolib. Patienten können am Smartphone mit einem Klick aus freien Terminen auswählen, auf Wunsch wird man per Kurznachricht am Tag zuvor beispielsweise an die Zahnreinigung erinnert. Doctolib steht allerdings wegen Datenschutzverstößen in der Kritik.
Feierabend. Pucher geht durch die Räume ihrer Praxis am Hopfengarten. »Vor einem halben Jahr hatte ich hier einen Wasserschaden, ich habe alles entkernt und erneuert«, erzählt sie. Trotz der Modernisierung sei ihr eines aber weiterhin besonders wichtig: Ein Computer steht in keinem der Behandlungszimmer. »In einem unbeachteten Moment könnte ein Patient aufstehen und in Daten einsehen.«
Nach Vorwürfen kontaktiert Ärztin im Kreis Gießen den App-Hersteller
Zunehmend, wenn allmählich auch Befunde, Röntgenbilder und Listen mit verschriebenen Medikamenten auf digitalem Wege erfasst werden, stehen Ärzte wie Pucher vor der Aufgabe, die sensiblen Daten ihrer Patienten zu schützen. Wie also geht die Licher Zahnärztin mit dem Misstrauen von Datenschützern gegenüber der App Doctolib um, die sie seit November vergangenen Jahres einsetzt?
Sie habe die Kritik an der App mitbekommen, berichtet Pucher. »Als mir klar geworden ist, wie intransparent Doctolib vorgegangen ist, bin ich vor Wut an die Decke gegangen.« Sie habe sich mit dem Unternehmen sofort in Verbindung gesetzt.
Termin-App soll die Suche nach Ärzten auch Facebook mitgeteilt haben
Der konkrete Vorwurf: Wenn bis vor wenigen Wochen jemand bei Doctolib beispielsweise nach Urologen oder Hodenkrebs gesucht hat, wussten darüber aufgrund von Cookies gleich darauf soziale Netzwerke wie Facebook und Outbrain Bescheid, sensibelste Daten wurden für kommerzielle Marketingzwecke genutzt.
»Sie haben auf die Vorwürfe aber reagiert«, erklärt Pucher. »Die Cookies wurden herausgenommen. Sonst hätten wir mit Doctolib nicht weiter zusammengearbeitet.«
Aufgrund der Vorwürfe wurde der Anbieter, über den 50 Millionen Patienten in Deutschland und Frankreich Arzttermine vereinbaren und der die Corona-Impftermine in Berlin koordiniert, mit einem Negativpreis bedacht: dem vom Datenschutzverein Digitalcourage verliehenen Big Brother Award.
App hilft Ärztin aus dem Kreis Gießen Patientenaufkommen zu erkennen
Beanstandet wird in diesem Zusammenhang auch, dass noch 2019 in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Doctolib zu lesen war, dass Patienten mit der Zustimmung zur App Ärzte von der gesetzlichen Schweigepflicht entbinden. »Das hätte ich nicht akzeptiert«, betont Pucher. Auch das habe Doctolib aber inzwischen revidiert.
Die Zahnärztin setzt sich an die Empfangstheke ihrer Praxis. Am Monitor führt sie die App vor. Ihre Behandlungszimmer sind darin grafisch dargestellt, Termine sind farblich markiert, akute Notfälle beispielsweise in dunklem Rot. »Ich habe zum ersten Mal einen grafischen Überblick und Statistiken zu meinen Terminen«, sagt Pucher. Im Sommer gebe es mehr akute Fälle, »deshalb muss ich in diesem Bereich derzeit mehr Termine frei halten.« Die App helfe ihr dabei. Sie könne zudem einsehen, welche Art von Behandlung überwiegt, wie viele ihrer Patienten ihre Termine auch wahrnehmen. »Die Quote für den Juni liegt bei 99 Prozent«, sagt Pucher. »Das ist ungewöhnlich hoch.« Die App habe große Vorteile, erklärt die Ärztin. 260 Euro gebe sie dafür monatlich aus. Ihre Praxis ist im gesamten Kreisgebiet noch eine von wenigen, die Doctolib einsetzen. »Patienten können weiter durch die Tür spazieren, hier vor Ort einen Termin vereinbaren und müssen die App nicht herunterladen.«
Kreis Gießen: Ärztin gab digitalen Patientenstammdatensatz an App-Hersteller
Die Zahnärztin hat Doctolib ihren digitalen Patientenstammdatensatz übermittelt. »Dabei handelt es sich aber nur um die Namen, die Adressen und die Geburtsdaten«, erklärt sie. Krankheitsdaten gingen nicht an Doctolib.
Pucher, die bis März für die FDP im Licher Stadtparlament saß, hinterfragt und diskutiert auch im Familienkreis über Doctolib. Und sie befasst sich mit weiteren großen Fragen, die mit Transparenz und Datenschutz zusammenhängen. Kürzlich habe eine ältere Frau ihre Praxis besucht, berichtet Pucher. Zwei Zähne sollten gezogen werden. Im Anamnesebogen habe die Frau eingetragen, dass sie keine Medikamente nimmt. »Ich hatte aber Zweifel.« Pucher rief mit dem Einverständnis der Patientin deren Hausarzt an. »Tatsächlich ist sie dement. Sie nimmt zahlreiche Medikamente und dabei auch zwei Blutverdünner.« Das Ziehen der Zähne hätte für die Frau somit gefährlich werden können.
»Das habe ich nur per Zufall erfahren«, sagt Pucher. Und so stellt sich die Frage, ob es in einem solchen Fall nicht geholfen hätte, wenn die Zahnärztin automatisch über relevante Patientenbefunde anderen Ärzte informiert worden wäre, was derzeit noch ausgeschlossen ist. Es geht um informelle Selbstbestimmung, um Transparenz und Datenschutz. Fragen um die Terminvergabe per App sind erst der Anfang einer noch weit größeren Diskussion. (Stefan Schaal)
Anfang des Jahres hat sich auch die Stiftung Warentest Doctolib angesehen und benotet*.
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