»Putins Behauptung stimmt nicht«

Lich (us). Bei der großen Kundgebung vergangene Woche vor dem Licher Rathaus, redete Dr. Hermann Otto Solms Klartext: »Ein ungeheures Kriegsverbrechen« sei der russische Einmarsch in die Ukraine. Zur Rechtfertigung behaupte Putin, der Westen habe 1990 eine NATO-Osterweiterung ausgeschlossen. »Das stimmt nicht«, sagte der frühere Bundestagsvizepräsident.
Er könne das beurteilen. »Ich bin Zeitzeuge.«
Der russische Einmarsch ins Nachbarland wird als Zeitenwende beschrieben. Eine Epoche, die von der Hoffnung auf ein friedliches Miteinander in Europa geprägt wurde, ist zu Ende gegangen. Begonnen hatte sie mit dem Fall der Mauer 1989 und der Neuordnung des Kontinents in den Jahren danach.
Solms hat die Politik damals an entscheidender Stelle mitgeprägt. Seine FDP regierte gemeinsam mit der CDU von Kanzler Helmut Kohl. Der Bundestagsabgeordnete aus Lich war seit 1985 stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion, seit Januar 1991 deren Vorsitzender. »Wir wurden exklusiv in kleinem Kreise informiert«, sagt er rückblickend. »Ich erinnere mich gut.« Auch Außenminister Hans-Dietrich Genscher sei bei diesen Gesprächen dabei gewesen.
Dass die Sowjetunion, die 1990 noch existierte, einen Verzicht auf die NATO-Osterweiterung gewünscht habe, hat Solms bereits auf der Kundgebung in Lich angemerkt. Im Gespräch mit dieser Zeitung präzisierte er, dass Genscher und dessen US-amerikanischer Kollege James Baker einen solchen Schritt in einer öffentlichen Erklärung auch erwogen haben. Aber eine Zusage, dass sich die Nato nicht ausdehnen wird, habe es nie gegeben. »Wenn es sie gegeben hätte, gäbe es dazu Dokumente. Doch die gibt es nicht«, sagt Solms. Putin hätte sie sonst längst präsentiert.
Zusage eingehalten
Was es gab, war die Charta von Paris, ein von 32 Staaten, einschließlich der UdSSR, im November 1990 unterzeichnetes Abkommen zur Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa. Sie nimmt Bezug auf die Prinzipien der Schlussakte von Helsinki, zu denen die Unverletzlichkeit der Grenzen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker gehören. Deutschland habe in diesem Zusammenhang zugesagt, dass keine NATO-Truppen auf dem Territorium der ehemaligen DDR stationiert werden, sagt Solms. Diese Zusage wurde eingehalten.« Was die Ausdehnung der Nato angeht, so verkennt nach Ansicht des FDP-Mannes bereits dieser Begriff den Charakter des Bündnisses. »Die NATO dehnt sich nicht aus. Die Aufnahme neuer Mitglieder erfolgt ausschließlich auf Antrag.« Tatsächlich hätten fast alle ost- und südosteuropäischen Länder solche Anträge gestellt.
Abschließend erinnert der FDP-Politiker aus Lich an das Budapester Memorandum. Darin erklärten sich nach dem Zerfall der Sowjetunion die Ukraine, Belarus und Kasachstan bereit, ihre Atomwaffen an Russland abzugeben. Im Gegenzug wurden ihnen Unabhängigkeit und Souveränität zugesichert. Die Ukraine war seinerzeit die drittgrößte Atommacht der Welt. Solms’ Schlussfolgerung: »Russland bricht Vertrags- und Völkerrecht.« Obwohl im Herbst aus dem Bundestag ausgeschieden, verfolgt Solms die aktuelle Entwicklung aus vorderer Reihe. Als Ehrenvorsitzender der FDP nimmt er an Bundesvorstands- und Präsidiumssitzungen seiner Partei teil. Allerdings: »Mit Meinungsäußerungen halte ich mich zurück.« Gelegentlich nutze er direkte Kanäle. »Was ich denke, simse ich dem Lindner.« FOTO: PM