Lehrer am Limit

Einfach nur unterrichten - das tun Lehrer schon lange nicht mehr. Nach wie vor ist da die üppige Pandemie-Organisation, gibt es vermehrte Auseinandersetzungen mit Schülern über die eigentlichen Stunden hinaus. Und seit Omikron wütet, ist immer häufiger Vertretung von Kollegen angesagt. Schulleiter im Kreis berichten: Die Lehrer sind erschöpft.
Donnerstagnachmittag, 15.30 Uhr. Carsten Müller (Name von der Redaktion geändert) kommt nach Hause. Acht Stunden Unterricht liegen hinter ihm. Der Lehrer aus dem Kreisgebiet, zieht seine Schuhe aus, legt Tasche, Jacke, Schal und Mütze an der Garderobe ab. Er sagt Frau und Kindern hallo, macht sich einen Kaffee und schneidet sich ein Stück vom Kuchen ab, der auf dem Tisch steht. Dann nimmt er in dem bequemen Sitzsack vor dem Ofen Platz, stellt Tasse und Teller neben sich auf den Boden. Fünf Minuten später schläft er.
Nach der Schule ist Müller platt, braucht erst Mal eine ausgiebige Pause. Pädagogen-Schläfchen hat seine Frau solche Ruhephasen früher nekisch genannt. Ein Begriff, der ihr schon lange nicht mehr über die Lippen gekommen ist. Die Erschöpfung ist zum Dauergast geworden.
Seit zwei Jahren leben die Menschen mit der Pandemie. Seit zwei Jahren zehrt sie an ihren Kräften. In den Familien. In den Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Behörden. Im Handel. In der Schule. »Die Lehrer gehen auf dem Zahnfleisch«, sagt Peter Blasini, Leiter der Dietrich-Bonhoeffer-Schule in Lich. »Die Situation ist angespannt. Die Kollegen sind erschöpft«, berichtet Jürgen Vesely, Rektor der Licher Erich-Kästner-Schule. Und das, obwohl die Weihnachtsferien noch nicht lange zurückliegen.
Die Gründe sind unterschiedlich und doch sind sie alle irgendwie auf die Pandemie zurückzuführen. Zum einen ist da der nach wie vor enorme organisatorische Aufwand. Tests müssen vor Unterrichtsbeginn geholt, mit den Schülern durchgeführt, anschließend entsorgt, die Ergebnisse dokumentiert und an die Schulleitungen zurückgegeben werden.
In zahlreichen Klassen werden aufgrund der vielen positiven Corona-Fälle gerade täglich Testungen vorgenommen. Verspätete Schüler sind nachzutesten, Testhefte in weiterführenden Stunden zu kontrollieren. »Das ist ein riesiger organisatorischer Mehraufwand«, berichtet Jörg Keller, Leiter der Theo-Koch-Schule in Grünberg. »Es ist die Summe der zusätzlichen Dinge, die müde macht. Es ist ja auch ohne Corona schon viel zu organisieren«, sagt Carsten Müller.
Neben den Lehrern sind auch Schulleitungen und Sekretariate viel mit coronabedingter Administration beschäftigt. Dort gibt man Tests aus, nimmt sie zurück, meldet die Zahlen ans Schulamt, kontaktiert Eltern, wenn Kinder positiv getestet wurden. Rund anderthalb Stunden dauert das jeden Morgen an der DBS. Tendenz steigend. »Zu unserer eigentlich Arbeit kommen wir in dieser Zeit nicht«, sagt Blasini. »Corona nimmt nach wie vor viel Zeit in Anspruch«, bestätigt Vesely.
Auch im Staatlichen Schulamt weiß man um die Zusatzbelastung seit Beginn der Pandemie. »Hinter den Schulen liegen zwei Jahre des Ausnahmezustandes. In dieser Zeit musste die Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrags um die sich dynamisch verändernden Corona-Maßnahmen herum gebaut werden«, sagt Schulamtsleiter Norbert Kissel. Das sei äußerst anstrengend und habe die Akteure in einem bisher nicht gekannten Maß gefordert. »Mit hoher Flexibilität, Verantwortungsbewusstsein und Engagement haben sich unsere Schulen dieser Aufgabe gestellt.«
Derweil bewegen sich die pandemischen Zahlen weiter auf hohem Niveau. Immer wieder werden Höchststände bei den Neuinfektionen gemeldet. Gestern waren es im Landkreis 754. Wie andernorts sind auch an den Schulen die positiven Fälle um ein Vielfaches gestiegen (siehe Kasten). Seit Omikron im Landkreis wütet, fallen - wenn auch nicht überall - zunehmend Lehrer aus. Weil sie selbst Corona haben oder zu Hause kranke Kinder betreuen müssen. Dazukommen die, die aus anderen Gründen krankheitsbedingt fehlen. Die Folge: Verbliebene Kollegen müssen neben ihren eigenen Klassen noch andere beschulen und mitunter für daheimgebliebene Schüler Unterrichtsmaterial bereitstellen. Das schlaucht. Blasini: »Deshalb sind unsere Lehrer momentan am Limit.«
Keller führt noch einen weiteren Grund für die enorme Belastungsituation der Lehrkräfte an: ein nie geahntes Gebaren der Schüler, die während der Pandemie »vieles verlernt haben, was Sozialverhalten angeht«. Regelverstöße, Beleidigungen, aber auch körperliche Gewalt hätten deutlich zugenommen und führten dazu, dass die Pädagogen sich quasi in einer dauerhaften Auseinandersetzung befänden, Gespräche mit Schülern und Eltern führten. »Es ist ein sehr viel höheres Konfliktpotenzial vorhanden«, sagt Keller. »Für mich ist das die schwierigste Phase seit Beginn der Pandemie.«
Guter Rat ist nach wie vor teuer, mancher meint, dass eine höhere Stellenzuweisung eine gute Sache wäre. Norbert Kissel ist der Auffassung, dass »unsere Schulen grundsätzlich gut mit Lehrkräften ausgestattet sind«. Alles an Mehr sei zwar sicher willkommen, führe aber nicht immer zu den erhofften schnellen Lösungen.
Aber genau die braucht es vor Ort. Und als Schulleiter ist man da im Sinne seines Kollegiums kreativ. »Ich versuche Belastungen von den Lehrern fernzuhalten, beispielsweise die Anzahl von Konferenzen und Dienstbesprechungen runterzufahren«, sagt Jürgen Vesely. »Alles, was nicht unbedingt notwendig ist, wird weggelassen.«
Draußen dämmert es bereits. Carsten Müller ist mittlerweile aufgewacht. Sein Kaffee ist kalt, aber die Akkus sind ein wenig aufgeladen. Gut, denn am nächsten Tag geht der pandemiebedingte Schulwahnsinn weiter.