Vor 701 Jahren erstmals erwähnt

Gibt es so nur in Laubach: Nachfahren des vor 600 Jahren aufgegebenen Baumkirchen im Seenbachtal halten bis heute einmal im Jahr Rat. Wichtigster Tagesordnungspunkt: Wahl des Scholtes, des Bürgermeisters. Pandemiebedingt fiel die gleich zweimal aus. Gestern aber wurde mit Michael Schenker das neue Oberhaupt einer Gemeinde bestimmt, deren urkundliche Ersterwähnung sich im Vorjahr zum 700.
Mal gejährt hat.
Nur gut, dass in diesem Fall ein Scholtes kaum Pflichten hat, mal abgesehen von der Leitung der Gemeindeversammlung und dem »Eintreiben« der Pachtzahlungen für den Landbesitz im wüst gefallenen Baumkirchen. Andernfalls hätte Gerhard Wagner wohl noch mehr Anlass, auf das vermaledeite Virus zu schimpfen. Wegen dem schließlich verlängerte sich seine Amtszeit von einem auf drei Jahre.
Die aber sind nun vorbei: Von den 22 Grundeignern, versammelt in der Baumkircher Gesellschaft, erschienen gestern 16 im »Mythos« und wählten Michael Schenker zu Wagners Nachfolger.
Der Laubacher steht nun einer Gemeinde vor, die es nur noch auf dem Papier gibt, an die nurmehr alte Urkunden, und Flurkarten erinnern würden, wäre da nicht dieser einzigartige Verein.
Baumkirchen übrigens ist nur eines von mehreren Dörfern im Seenbachtal, die in karolingischer Zeit, hier um 800, gegründet wurden, im späteren Mittelalter wüst fielen. Auch hier folgten die Bewohner dem Ruf »Stadtluft macht frei!«, zogen nach Laubach und prägten fortan dessen Geschichte mit. Nur am Rande: Die Straße »Lippe« trägt den Namen einer Baumkircher Flur.
Im 15. Jahrhundert aufgegeben, halten also die »Nachfahren« bzw. heutigen Grundeigner bis heute die Erinnerung an ihr Dorf wach: Stets am 3. Februar, dem Tag des heiligen Blasius, kommt man zusammen. Schriftlich verbürgt ist das seit 1549, auf dieses Jahr ist das älteste Versammlungsprotokoll datiert. Darin aufgelistet die Pachtzahlungen für die Weidteile, seinerzeit Eigentum von 45 Familien. Ein Dokument, das bei jedem Treffen dabei ist, verwahrt in einer kunstvoll verzierten Lade - freilich nur als Duplikat, das Original ist in einem Tresor der Sparkasse verwahrt.
Neben der Scholtes-Wahl wichtigster Tagesordnungspunkt der Treffen ist das Verlosen der Weidteile im Gemeineigentum (Allmende), insgesamt gut fünf Hektar. Was freilich heute nurmehr der Traditionspflege dient. »Ja, in alter Zeit«, weiß der Baumkircher Bernhard Jäger, »da war das anders, hatte die Zulosung eines Allmendeteils den Bauern noch was bedeutet, gewannen sie doch ein oder zwei zusätzliche Wagen mehr Heu als Futter für ihre Tiere.«
Lang vorbei, bewirtschaftet doch längst ein Vollerwerbslandwirt das Land. Der Pachterlös aus den Flächen in Privat- und Gemeineigentum fließt in die Vereinskasse, nebst den Mitgliedsbeiträgen wird damit die Rechnung fürs »große Schmausen« nach dem Gemeinderat begleichen. Wie bei der Ausschussgesellschaft heißt es auch hier: »Frauen müssen draußen bleiben«. Selbst wenn sie Grundeigentümerin sind. »Ist halt Tradition«, erklärt Jäger im GAZ-Gespräch. Und verweist auf ein Protokoll aus 1667, wonach die Tafel erst nach drei Tagen aufgehoben wurde, die Baumkircher (damals allerdings um die 60 Mann) ein ganzes Kalb verspeist hatten.
Vor allem Jägers Engagement ist zu verdanken, dass die Geschichte Baumkirchens einer breiteren Öffentlichkeit bewusst wurde: Auf sein Betreiben hin hatte die Landesdenkmalpflege in den Nullerjahren archäologische Grabungen veranlasst, wurden die Fundamente des einstigen Gotteshauses und Artefakte wie der alte Kirchenschlüssel gefunden und gesichert. Für seine Verdienste wurde er zum »Ehrenscholtes« ernannt.
Bei Recherchen im Staatsarchiv Darmstadt hat Jäger eine bedeutsame Entdeckung gemacht: eine Schenkungsurkunde ans Kloster Arnsburg, datiert auf den 24. Juni 1322, worin Baumkirchen unterm damaligen Namen Bayminsehinde erstmals urkundlich erwähnt werde. Im Vorjahr also, noch von der Pandemie bestimmt, hätte man aufs 700-Jährige blicken können.
In einer »Übersetzung« der Urkunde heißt es: »Wir, die Eheleute Rudolf, genannt ›von Mainzlar‹, Bürger in Grünberg, geben zur Kenntnis, dass Abt und Konvent des Klosters Arnsburg unsere Söhne (…) Heinrich und Konrad in die Gemeinschaft ihres Ordens aufgenommen haben.« An anderer Stelle ist zu lesen, dass die Grünberger »im Interesse ihrer Söhne« dem Kloster diverse Einkünfte zuwiesen, darunter eine Abgabe von zwei Mark aus ihrem Gut Bayminsehinde.