Von den Wunden der Kindheit

Laubach (dis). Der Journalist und Autor Harald Martenstein war nun in der OVAG-Veranstaltungsreihe »Leseland Gießen« im großen Sitzungssaal des Laubacher Rathauses zu Gast. Leider vermochten die zur Verfügung stehenden Mikrofon- und Lautsprecheranlagen den zahlreichen Besuchern kein ungetrübtes Hörvergnügen zu bieten, sodass man gezwungen war, diese abzuschalten.
Das tat der Veranstaltung keinen Abbruch, denn Martenstein sprach verständlich und die Zuhörerschaft scharte sich um ihn.
Der Autor begann mit der Lesung aus seinem 2021 erschienenen Buch »Wut«, seinem vierten Roman. Es ist ein Werk, das zeigt, wie schwer es ist, die Wunden der Kindheit zu heilen. Martenstein merkte an, dass er eine Geschichte erzählt, wenn er eine Frage hat, auf die er keine Antwort weiß.
Mit »Wut« hat sich der Autor einem ernsten und erschütternden Thema zugewandt, der Kindesmisshandlung. Darin ist ein Junge namens Frank den Wutausbrüchen der Mutter ausgeliefert. Diese Wutausbrüche sind ein Erbe des Krieges und der Schrecken einer Kindheit, die der Junge nicht vergessen kann.
»Wie kann man als erwachsener Mensch damit umgehen? Hass und Wut ist nicht schön«, so Martenstein. Frank, jener Junge, habe vor der Mutter Angst gehabt, sie zeitweise gehasst, »und es war wohl so etwas wie eine Krankheit«.
Die Mutter konnte nie zeigen, was sie kann, ihr Mann war der schwächere und griff nie ein. Die Mutter trat die Tür auf und rief »Komm raus, du Stück Scheiße«. Der Junge verkroch sich unter das Bett - die Mutter versuchte, mit dem Besenstiel nach dem Kind zu schlagen. »Wenn er unter dem Bett bleibt, verliert er, wenn er hervorkrabbelt, verliert er erst recht«, so Martenstein.
Niemand schien zu bemerken, dass der Junge regelmäßig verprügelt wurde. Die Lehrer nicht und sein Vater auch nicht. Die Mutter schrie, dass der Junge ihr Unglück sei, »genauso ist wie der Vater, ein Stück Scheiße«. Immer wieder schlug sie dem Kind ins Gesicht, doch mit der Zeit machte ihm das nichts mehr aus. Der Junge winselte nicht um Gnade, weinte nicht und grinste seine Mutter nur an, lachte - und war wie eine Festung: »Man hätte ihn totschlagen müssen, um zu gewinnen.« Martenstein las auch aus der Perspektive der Mutterfigur, die vom Pflegevater missbraucht wurde und in einem Bordell aufwuchs.
Die eingeplante Pause wurde von den Zuhörern für Fragen zu der Thematik genutzt, die von Martenstein ergiebig und mit viel Sachverstand beantwortet wurden. Im Anschluss las er noch einige satirische Kolumnen vor.
Martenstein (*1953 in Mainz) war Redakteur von 1981 bis 1988 bei der Stuttgarter Zeitung und beim Tagesspiegel in Berlin von 1988 bis 1997. Für kurze Zeit leitete er die Kulturredaktion der Abendzeitung in München, kehrte danach zum Tagesspiegel als leitender Redakteur zurück. Seit 2002 schreibt er eine Kolumne für »Die Zeit«. Einige Jahre war Martenstein zudem mit Kolumnen in der »Geo kompakt« vertreten; er schreibt Glossen zu den Berliner Filmfestspielen und vereinzelt auch größere Reportagen und Essays. Heute lebt er in Berlin. FOTO: DIS