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Ein Jahr Ukraine-Krieg: Wie geflüchtete Kinder im Kreis Gießen ihre Erlebnisse verarbeiten

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Von: Thomas Brückner

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300 ukrainische Flüchtlinge sind in Laubach (Kreis Gießen) gelandet. Das Gros sind Kinder. Ihre oft traumatischen Erlebnisse verarbeiten sie mit Zeichnungen.

Laubach - Die Erinnerungen an den Krieg in seiner Heimat sind noch lebendig, doch werden sie vom Alltag in der Fremde nach und nach verdrängt. Ahmed, neun Jahre alt, lebt seit einem Dreivierteljahr mit seiner Mutter sowie den beiden kleineren Geschwistern in der Gemeinschaftsunterkunft am Ramsberg in Laubach (Kreis Gießen). Seine Familie stammt aus Charkiw. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine, insbesondere von Februar bis April 2022 Schauplatz heftiger Kämpfe, hat ungezählte zivile Opfer, beschädigte oder zerstörte Gebäude zu beklagen. Nicht das Ende, die Angriffe dauern bis heute an.

Ahmed besucht die dritte Klasse an der Theodor-Heuss-Schule, hat inzwischen etwas Deutsch gelernt. Nach seinen liebsten Hobbys gefragt, antwortet er prompt: »Fußball und Zeichnen«. Auf Bildern, bald nach der Flucht entstanden, sind in kindlicher Manier gemalte Flugzeuge, Soldaten, Kanonen zu sehen. Und immer wieder Panzer. »Die hat er beim Blick aus dem Fenster gesehen«, antwortet für ihn eine junge Lehramtsstudentin, die sich als Dolmetscherin angeboten hat. »Es waren die Monate, als die Russen versuchten, Charkiw zu erobern.«

Ein Jahr Ukraine-Krieg: 35 Flüchtlingskinder leben in ehemaliger Jugendherberge im Kreis Gießen

Der Neunjährige lebt mit weiteren 34 Jungen und Mädchen in der ehemaligen Jugendherberge Laubach - reichlich Ablenkung ist da garantiert, für sorgenvolle Gedanken an die zurückgelassenen Verwandten und Freunde bleibt wenig Zeit.

Dass die Schrecken des Krieges so langsam verblassen, bestätigen die Worte des zwölfjährigen Kirill, der ebenfalls im vergangenen Frühjahr aus Charkiw mit seiner Mutter Oksana geflohen ist: »Nur manchmal überkommen mich noch Angst, auch Zorn. Albträume habe ich zum Glück keine«, übersetzt die Studentin.

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Mit den bunten Farben traumatische Erlebnisse im Krieg in ihrer ukrainischen Heimat verarbeiten. © Thomas Brueckner

Ein halbwegs normales Leben als Traumatherapie? »Ja«, sagt Jochen Bantz, Leiter der Gemeinschaftsunterkunft. Die vielen Kinder in unserem Haus, die vielen neuen Eindrücke, in der Kita, der Schule, im Sportverein oder Chor, das alles sei hilfreich. »Wenn man es nicht wüsste, könnte man meinen, diese Kinder kämen nicht aus einem Kriegsgebiet. Als sie hier ankamen, war das noch ganz anders, hätten Sie Worte wie die von Kirill nicht gehört. Ganz weg werden die Schrecken aber nie sein.«

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Mutter aus Charkiw berichtet von Flucht nach Gießen

Kein Wunder: Kirill, die Mutter und etwa 20 weitere Bewohner eines Mehrfamilienhauses in Charkiw hatten in den ersten Kriegstagen im Keller Schutz gesucht. Eine Woche ohne Strom, in Dunkelheit, Kälte - immer in Todesangst. Immer bereit zur schnellen Flucht, falls auch ihr Gebäude bombardiert würde.

Dann reichte es Oksana. Die Rettungsassistentin besorgte sich einen Krankenwagen, packte den Sohn und weitere Bewohner hinein und fuhr zum Bahnhof, wo sie einen Zug nach Westen erreichten. Über Gießen gelangten sie im vergangenen März nach Laubach. »Hier hat er erstmals wieder ohne Straßenkleidung geschlafen«, erzählt Jochen Bantz, »der Krankenwagen steht vielleicht noch heute am Bahnhof...«

Zerstörte Häuser, Soldaten und russische Panzer: Ukrainische Kinder verarbeiten Erlebnisse in Bildern

Auch der Zwölfjährige hat seine Erlebnisse in Bildern festgehalten: zerstörte Häuser, Soldaten, russische Panzer mit einem »Z«, Artilleriegeschütze, Flugzeuge, die Bomben abwerfen auf der einen Seite, ukrainische Stellungen auf der anderen. »Er habe das inzwischen ein bisschen vergessen«, übersetzt die Lehramtsstudentin die Worte des Jungen. Wie bei Ahmed verfolgt das Gespräch auch hier die Mutter: »Am Anfang hat er sehr gelitten.«

Über Handy hat Kirill Kontakt zu den zurückgelassenen Freunden. »Ihnen geht es gut«, antwortet er nun auf Deutsch. Bleibt die Frage nach den größten Wünschen der Kinder, deren Bilder neben anderen eine Wand der Gemeinschaftsunterkunft schmücken. Beide äußern nur einen einzigen: »Kein Krieg«, sagt der eine. »Einen Sieg der Ukraine«, der andere. (Thomas Brückner)

Das Deutsch-Russische Zentrum im Kreis Gießen versteht sich seit Ausbruch des Krieges als Anlaufstelle auch für Menschen aus der Ukraine.

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