Neuerung beim Rettungsdienst: Krankenhäuser sind nicht mehr einzige Anlaufstelle für Notfälle

Im Kreis Gießen muss der Rettungsdienst nicht mehr zwangsläufig Krankenhäuser anfahren: 50 Hausärzte nehmen jetzt auch Notfälle an. Das soll die Notaufnahmen entlasten.
Gießen – Der Rettungsdienst rückt im Kreis Gießen jährlich zu rund 44 000 Einsätzen aus. Schnelles Handeln ist dann gefragt. Bisher müssen Patienten in umliegende Krankenhäuser gebracht werden, seit diesem Monat gibt es eine Neuerung: Erstmals darf der Rettungsdienst auch Hausarztpraxen anfahren.
Das Blut spritzt, das Küchenmesser steckt im Finger, es ist ein Notfall, der Patient ruft die 112. Bisher mussten die alarmierten Kräfte des Rettungsdiensts Patienten dann zur ärztlichen Versorgung ins Krankenhaus bringen. Seit diesem Monat dürfen sie im Kreis Gießen nun erstmals auch niedergelassene Hausarztpraxen anfahren, wenn die Versorgung in einer Notaufnahme oder einer Klinikambulanz nicht erforderlich ist.
Modellprojekt für Rettungsdienst soll Notaufnahmen im Kreis Gießen entlasten
Die Genehmigung des Landes Hessen im Rahmen eines Modellprojekts unter Koordination des Sozialministeriums ist kürzlich erfolgt, aktuell werden Verträge ausgearbeitet. In wenigen Tagen soll die Umsetzung unter dem Titel »Sektorübergreifende ambulante Notfallversorgung« starten.
Das auf zunächst zwei Jahre angelegte Projekt soll in erster Linie dazu beitragen, die Ambulanzen in den Krankenhäusern zu entlasten, erklären Hans Georg Jung und Dr. Ben Michael Risch vom Sozialministerium. Im Kreis Gießen ist der Rettungsdienst im Jahr 2020 zu insgesamt 44 000 Einsätzen ausgerückt. In rund 1000 ambulanten Fällen, schätzen Jung und Risch, könnten zukünftig Hausärzte die Notaufnahmen in den Krankenhäusern werktags in der Zeit von 7 bis 17 Uhr entlasten.
Schwerwiegende Notfälle wie zum Beispiel nach Verkehrsunfällen oder Herzinfarkte, werden, betont eine Sprecherin des Sozialministeriums, »selbstverständlich weiterhin im Krankenhaus behandelt.«
Rettungsdienst im Kreis Gießen: Angemessene und korrekte Entscheidung für Erfolg wichtig
Rund 50 Hausarztpraxen im Kreisgebiet haben sich zur Teilnahme an den Projekt gemeldet. Sie sollen an das Meldesystem IVENA angeschlossen werden, mit dem die Krankenhäuser arbeiten und das ständig in Echtzeit einen Überblick über freie Behandlungskapazitäten gibt.
»Es wird vor allem am Anfang zu Geruckel kommen«, sind sich Risch und Jung sicher. Entscheidend für den Erfolg des Projekts dürfte indes vor allem die Frage sein, wie angemessen und korrekt in den konkreten Einsätzen die Entscheidung getroffen wird, ob es sich um einen tatsächlichen Notfall handelt, der in der Klinik behandelt werden muss, oder ob eine Fahrt zum Hausarzt ausreicht.
Eine Software namens »SmED« soll dabei zum Einsatz kommen, die Abkürzung steht für »strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland«. Mithilfe der Software können auch Helfer und Rettungskräfte, die keine Ärzte sind, eine rechtlich abgesicherte Ersteinschätzung zu dem Notfall treffen. Das Programm stellt standardisierte Fragen und empfiehlt anschließend, wohin der Patient gebracht werden soll.
Kreis Gießen: Software dient nicht nur Absprache, sondern auch Qualitätssicherung
Sämtliche Stellen im Kreis, die in Notfälle involviert sind, nutzen diese Software nun bei der Erfassung der Patienten - die Leitstelle, die Kräfte des Rettungsdiensts, die Kassenärztliche Vereinigung, die Krankenhäuser sowie die teilnehmenden Hausärzte. »Bisher haben die Stellen in diesem Bereich alle in unterschiedlichen Sprachen gesprochen«, erklärt Jung. »Die Synchronisierung war für uns die größte Herausforderung.« So sorge man für kurze digitale Wege, spare in vielen Fällen den zeitraubenden Austausch per Telefon oder Fax. »Die Software dient dabei als Grundlage«, betont Risch. »Natürlich spielen weiterhin auch Erfahrung und das Bauchgefühl bei der Einschätzung der Fälle eine wichtige Rolle.«
Risch fügt hinzu, dass Entscheidungen innerhalb des Systems immer auch korrigiert werden können. »Der Hausarzt kann zum Beispiel entscheiden, dass der Patient doch ins Krankenhaus gebracht werden muss, dieser wird dann mit dem digitalen Pfad der Klinik überstellt.« So diene die Software nicht nur der Steuerung, »sondern auch der Qualitätssicherung«.
Rettungsdienst: Verteilung von Notfällen im Kreis Gießen entlastet Ambulanzen
Jung räumt ein, dass der Einsatz der Software durchaus eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, die im Notfall freilich kostbar ist. »Klar verliert man ein paar Sekunden«, sagt er. »Aber wenn stattdessen Hunderte an der falschen Stelle landen oder fälschlicherweise die Notaufnahme eines Krankenhauses belasten und somit das Gesundheitssystem unter Druck setzen, schadet das insgesamt der Patientenversorgung viel mehr, als wenn wir bei der Erfassung der ambulanten Notfälle einen Tick mehr Zeit investieren.«
Das Projekt könnte Krankenhausambulanzen tatsächlich spürbar entlasten. Doch werden damit nicht gleichzeitig Hausärzte zusätzlich belastet, die während der Corona-Krise ohnehin deutlich mehr zu bewältigen hatten als zuvor? »Ja, schon«, sagt Risch. »Aber das verteilt sich, wir müssen die Zahlenverhältnisse beachten. Wir haben in Hessen 127 Krankenhäuser und rund 13 000 niedergelassene Ärzte.«
Notfälle sollen weiter in Notaufnahmen im Kreis Gießen gebracht werden
Arztpraxen könnten außerdem kurzfristig innerhalb des Systems melden, dass sie beispielsweise für die kommenden drei Stunden keinen ambulanten Notfallpatienten aufnehmen können. Ungünstig wäre außerdem, erklärt Risch, wenn sich der Rettungsdienst für den Transport in eine Hausarztpraxis entscheidet, diese die Nachricht aber nicht mitbekommt. »Auf dem Land könnte der Rettungswagen dann sechs Kilometer unnötigerweise fahren, obwohl der Arzt in dem Moment keine Kapzität hat, während auch bei einem ambulanten Notfall aber die Zeit zählt.« Um eine solche Situation zu verhindern, rufe die Zentrale nach drei Minuten an, wenn der Arzt die Meldung, dass ein Notfall zu seiner Praxis unterwegs ist, nicht bestätigt hat.
Es gehe darum, dass in den Notaufnahmen der Krankenhäuser nur Patienten behandelt werden, die wirklich Notfälle sind. Gleichzeitig gehe es um eine finanzielle Entlastung des Gesundheitssystems. »Keine Form der Behandlung ist so teuer wie eine Behandlung im Krankenhaus.« (Stefan Schaal)
Um Menschenleben zu retten, hat der Kreis Gießen bereits eine App in Umlauf gebracht. Die musste allerdings gestoppt werden – der Kreis hofft auf einen baldigen Neustart.