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Impressionen der Pandemie

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Von: Susanne Riess

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Sehnsuchtsvolle Blicke durch ein Schaufenster. © pv

Man sagt oft, jemand hat ein Auge für etwas. Gabriele R. Winter aus Grünberg hat es definitiv. Ein Auge für besondere Fotomotive. Durch ihre Kamera sieht sie auf den ersten Blick ganz alltägliche Dinge. Auf den zweiten Blick werden sie besonders und einzigartig.

Obwohl Gabriele R. Winter mit der Fotografie großgeworden ist, hat sie ihre Leidenschaft dafür erst spät entdeckt. Ihr Vater arbeitete als Fotograf für Postkartenmotive, zur Kommunion bekam die heute 73-Jährige ihre erste eigene Kamera und einen Film geschenkt. Doch es wurde keine Liebe daraus. »Mein Vater hatte hohe Ansprüche. Alles, was ich fotografiert habe, fand er schrecklich«, erinnert sich die ehemalige pädagogische Leiterin der Theo-Koch-Schule. Umgekehrt sei es wohl genauso gewesen. Er ließ ihr zudem wenig Spielraum für eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Also legte sie irgendwann im Jugendalter die Kamera weg. Lange Zeit wollte sie mit diesem Thema nichts mehr zu tun haben - erst mit 60 wendete sich die Grünbergerin wieder der Fotografie zu.

»Anlässlich meines runden Geburtstags bin ich nach New York geflogen. Ich war so beeindruckt von der Stadt und den Menschen, dass ich mir dort eine Kamera gekauft habe, und einfach alle Eindrücke festhalten wollte«, erinnert sie sich. Ihr Augenmerk lag aber nicht auf den üblichen Fotomotiven, die schon Tausende Male abgelichtet worden sind, sondern auf den einzigartigen Szenen, die sich auf den Straßen abgespielt haben. »Das ist mein Ding.« Und das ist bis heute so geblieben.

Nach ihrem Schlüsselerlebnis in New York hat Gabriele R. Winter ihre Ausrüstung ständig erweitert, Fotokurse besucht und sich mit anderen Fotografen angefreundet. Der Austausch untereinander, aber auch der »Konkurrenzkampf« ums beste Bild hat sie ebenfalls weiter voran gebracht.

Einer ihrer fotografischen Schwerpunkte liegt in der Tierfotografie, hier aber ausschließlich Vogelschwärme oder Vögel im Flug. »Einen Vogel, der auf einem Ast sitzt, kann jeder fotografieren. Das fordert mich nicht heraus«, sagt die Pensionärin. Ihre Astrofotografie steckt noch in den Kinderschuhen.

Seit Beginn der Pandemie fotografiert sie ausschließlich schwarz-weiß. Bei einem ihrer Streifzüge ist sie im Sommer vergangenen Jahres in TraisHorloff gewesen und hat »eigentlich ganz nebenbei« einen Vogelschwarm in einem Baum fotografiert. Nun ist dieses Foto bei der weltweiten Fotocommunity Flickr als bestes Foto des Jahres in der Kategorie »Tierfotos« ausgezeichnet worden.

»Ich konnte es erst gar nicht glauben. Dort waren über tausend teils hervorragende Farbfotografien eingereicht worden«, erzählt Gabriele R. Winter und ist noch immer erstaunt über ihren Erfolg. »Ich war lediglich zur richtigen Zeit am richtigen Ort und hatte das richtige Objektiv dabei.« In der Laudatio begründete Flickr die Auswahl damit, dass ihr Foto genial abstrahiere, an den Künstler Escher erinnere und vielleicht dadurch die Schwarzweißfotografie einen höheren Stellenwert bekommen könnte. Ihrem Siegerfoto hat sie übrigens den Titel »Schwarmintelligenz« gegeben. Ein Thema, das gerade in Pandemiezeiten aktueller sei denn je.

Was macht für sie eigentlich den Reiz an der Schwarzweißfotografie aus? Wirken diese Bilder nicht eher trist, vor allem in der heutigen Zeit? »In der Farbfotografie sehe ich kaum Umsetzungsmöglichkeiten meiner Eindrücke. Schwarzweiß konzentriert und reduziert. Dabei pointiere ich oft mit harten Kontrasten«, erklärt die Hobbyfotografin, die auch in der Fotogruppe Rabenau und bei den »Lichtmalern« Grünberg mitwirkt. Bei einer Ausstellung zum Thema Kommunikation konnte man 2015 einen Teil ihrer Werke bereits betrachten, weitere Ausstellungen sind geplant.

Gabriele R. Winter hat nie ein spezielles Motiv im Sinn, wenn sie mit ihrer Kamera loszieht: »Ich streife durch die Gegend und fange Impressionen ein, die ich in der Pandemie erlebe. Gerade durch den konzentrierten Blick durch die Kamera werden Veränderungen in unserer Gesellschaft besonders gut deutlich.« Was zunächst eher abstrakt wirkt, wird greifbar, wenn man einen Blick in ihre drei dicken Fotobücher wirft, die sie während der Corona-Pandemie bereits erstellt hat: »2020«, »Lockdown« und »Begegnungsorte«. Der nächste Band ist bereits in Planung und wird »Neue Freiheit« heißen.

Zu sehen ist zum Beispiel ein Vater mit seinem Kind, beide stehen vor einem Schaufenster. Sie können aber nicht in das Geschäft hinein, weil es geschlossen ist. Oder ein junges Paar, das die Nähe zueinander sucht, weil sie derzeit nur sich haben, andere Kontakte fehlen. Oder eine Person, die einsam und verlassen an einem Bahnsteig - eigentlich ein sehr belebter Ort - sitzt. Gabriele R. Winter versucht auf künstlerische Art, Antworten auf Fragen zu finden. Wie verändert die Pandemie unser Leben? Was macht sie mit den einzelnen Menschen? Welche neuen Verhaltensmuster werden sichtbar?

Gib es Pläne für die Zukunft? »Wohin mich die Fotografie in Zukunft führt, ist offen. Ich lasse mich treiben«, meint die Grünbergerin. FOTO: SU

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Gabriele R. Winter © Susanne Ries

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