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»Im permanenten Krisenmodus«

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Von: Jonas Wissner

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»Auf Dauer haben wir ein Problem mit der Unterhaltung unserer Infrastruktur«, das zeige sich im Haushalt, sagt Jürgen Rausch, seit 2002 Leiter der Finanzabteilung in der Stadtverwaltung von Allendorf (Lumda). © Jonas Wissner

Chronisch klamme Finanzen, Vakanzen im Rathaus, eine Verwaltung am Anschlag: In Allendorf (Lumda) türmen sich die Herausforderungen. Für Jürgen Rausch, Leiter der Finanzabteilung und langjähriger Feuerwehrmann, brennt es im Joballtag an vielen Ecken. Im Interview spricht er über finanzielle Belastungen, die schwierige Personalsuche - und äußert sich auch zur Frage, ob die kleinste Kreiskommune über ihre Verhältnisse lebt.

Herr Rausch, Sie leiten in Allendorf die Finanzabteilung und nun interimsmäßig auch das Hauptamt. Was heißt das für Ihren Joballtag?

Prioritäten setzen, anders geht es nicht. Letzte Woche war Stadtverordnetenversammlung, das geht vor - dann müssen andere Dinge liegen bleiben, insbesondere Aufgaben aus der Finanzabteilung, etwa Jahresabschlüsse. Große Feuer muss man angehen, kleinere muss man beobachten. Ich kann mich nicht zweiteilen.

Ist schon absehbar, wie lange Sie die Vertretung noch machen?

Wir hatten eine Ausschreibung, die Bewerbungsfrist ist abgelaufen. Wir sichten das nun, der Magistrat beschäftigt sich zeitnah damit. Aber Fakt ist: Mit einer Nachbesetzung bin ich da sicher nicht sofort entlastet. Die Einarbeitung bedarf Zeit.

Die Allendorfer Finanzen sind chronisch angespannt. Das geplante Defizit im Haushalt 2022 von 361 000 Euro ist zwar durch Rücklagen ausgleichbar. Sie haben im Haushaltsvorbericht aber darauf hingewiesen, dass es der zweite defizitäre Etat in Folge ist, das müsse »Mahnung für alle verantwortlich Handelnden« sein. Findet diese Botschaft Gehör?

Das Problem ist wie in der Familie: Man hat verschiedene Interessen. Der eine möchte gern das Haus sanieren, der andere vielleicht in Urlaub fahren. Wobei ich an dieser Stelle betonen möchte, dass es bei den Themen in Allendorf sicherlich nicht um »Luxusprobleme«, sondern vor allem um den Erhalt und die Fortentwicklung der städtischen Infrastruktur geht. Alles ist berechtigt, aber letztlich muss man sich im Kompromiss wiederfinden. Es geht nicht alles auf einmal. Man muss Prioritäten setzen und darauf achten, dass es personell und finanziell stemmbar bleibt. Wir haben in Allendorf viele bestehende Baustellen. Man muss auch Zeit geben, diese zu bewerkstelligen.

Haben Sie ein Beispiel?

Wir sind jetzt final in der Brandschutzsanierung für das Allendorfer Bürgerhaus, zwei große Baustellen stehen noch an: das Rathaus mit Mängeln und die Brandschutzsanierung im Bürgerhaus Nordeck. Allein diese Projekte binden erhebliche personelle Kapazitäten. Das tägliche Geschäft muss aber weiter stattfinden: Bürger stellen Anträge, die bearbeitet werden müssen.

Sie haben im Vorbericht auch geschrieben: »In finanzieller Hinsicht darf die Stadt nicht über ihre Verhältnisse leben.« Tut sie das aktuell?

Das kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Gerade für Kommunen unter 5000 Einwohnern ist die finanzielle Situation immer schwierig. Das fängt damit an, dass wir aus dem kommunalen Finanzausgleich deutlich weniger Geld pro Kopf bekommen als größere Kommunen. Würden wir beispielsweise den Pro- Kopf-Wert von Gemeinden mit über 7500 Einwohnern erhalten, so wären dies circa 100 000 Euro mehr pro Jahr. Dies macht rund 100 Hebesatzpunkte bei der Grundsteuer aus, die der Stadt grundsätzlich fehlen.

Sehen Sie neben den geringeren Zuweisungen weitere Gründe, warum die Stadt so chronisch klamm ist?

Wir müssen teils Aufgaben wie eine Großstadt stemmen, sei es steuer-, gebühren- oder beitragsrechtlich. Darüber hinaus haben wir viele Liegenschaften zu unterhalten, etwa die Friedhöfe und die drei Bürgerhäuser. Da sagen manche: Das ist Luxus. Andererseits - und da bin ich d’accord mit den Parlamentariern: In Nordeck, Winnen und Climbach gibt es außer der Infrastruktur der Stadt ja fast nichts mehr. Wenn sich die Stadt hiervon zurückzieht, verbleiben nur noch reine Wohnstätten. In Climbach, Nordeck und Winnen sind die Bürgerhäuser weitgehend die einzige Möglichkeit, sich zu treffen und das soziale Miteinander zu pflegen. Die Unterhaltung der Gebäude kostet Geld, wird aber bei der Finanzausstattung als freiwillige Leistung gewertet, für die die Stadt alleine aufkommen muss. Somit führen verschieden Faktoren dazu, dass es eine ungünstige Einnahme- und Ausgabensituation gibt.

Will man in Allendorf - gemessen an der Finanzausstattung - zu viel?

Das ist eine politische Frage, die ich so nicht beantworten kann. Aber ich möchte darauf hinweisen: Wir haben viele Aufgaben aufgebürdet bekommen, etwa im Kita-Bereich. Entsprechend gibt es dort eine Kostenexplosion, die mehr oder weniger vorgegeben ist. Das Land beteiligt sich zwar regelmäßig an den investiven Erweiterungskosten, aber das Grundproblem ist die dauerhafte Finanzierung der Einrichtungen. Hier sind die gewährten Zuschüsse aus städtischer Sicht deutlich zu niedrig. Allein dieses Jahr haben wir da laut Plan ein Defizit von 1,35 Millionen Euro, das muss die Stadt zuschießen.

Auf der anderen Seite fehlt es an Einnahmen.

Das Problem in Allendorf ist: Die Gewerbesteuer ist gegenüber der Einkommensteuer im Vergleich zu manch anderer Kommune eher unterrepräsentiert. Das schmerzt uns - zumal wir als Grundzentrum auch kein großes Gewerbe neu ansiedeln dürfen. Es ist aber nicht so, dass die vorhandenen Unternehmen hier zu wenig zahlen, ganz im Gegenteil.

Laut Haushaltsvorbericht wäre für 2022 eine Grundsteuererhöhung um 44 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 975 Hebesatzpunkte nötig gewesen, um den Haushalt auszugleichen. Stattdessen wurden 690 Punkte beschlossen. Bräuchte es eigentlich eine deutlichere Erhöhung?

Zunächst ist es ein Plan. Das Problem ist: Der Hebesatz wird auch davon beeinflusst, dass wir erhebliche Unterhaltungsmaßnahmen durchführen müssen. Es müssen aber auch Handwerker da sein, die das umsetzen. Manchmal kommen deshalb Sanierungsmaßnahmen nicht zum Tragen und das Ergebnis des Jahresabschlusses sieht dann besser aus als die Haushaltsplanung. Aber auf Dauer haben wir ein Problem mit der Unterhaltung unserer Infrastruktur, das zeigt der Haushalt. Tenor der Stadtverordnetenversammlung war: Wir haben noch Rücklagen, die wir in Anspruch nehmen. Die Finanzaufsicht beim Regierungspräsidium hat den Haushalt kürzlich genehmigt. Trotzdem hat man eine gewisse Grundsteuererhöhung eingeplant, um den Bürgern zu signalisieren: Wir haben ein finanzielles Problem. Und je länger man eine Steuererhöhung hinausschiebt, umso heftiger wird sie am Ende.

Welche Folgen hätte eine dauerhafte Schieflage für die Stadt?

Vom Gesetz her kann eine Kommune nicht insolvent werden, aber im Prinzip ist es wie bei jedem Unternehmer: Wenn die Verbindlichkeiten höher sind als das Kapital, dann ist eine Überschuldung da, die Konsequenzen hat. Glücklicherweise gab es über den kommunalen Schutzschirm des Landes eine Stärkung der städtischen Finanzen, von der wir profitieren. Allerdings haben wir Investitionen im Haushalt, die mit Darlehensaufnahmen einhergehen und die Finanzen wiederum dauerhaft belasten. Ich bin jetzt über 30 Jahre hier - es gab in dieser Zeit keinen Haushalt, der leichtgefallen ist. Das wird uns immer begleiten. Die derzeitige kommunale Finanzausstattung ist zum Leben eigentlich zu wenig und zum Sterben zu viel. Aber man muss lernen, damit umzugehen, darf die Hände nicht in den Schoß legen.

Wenn Sie auf gut 30 Jahre in der Stadtverwaltung zurückblicken: Was hat sich vor allem verändert?

Es ist komplexer geworden. Mit Einführung der EDV gab es zwar eine Entlastung durch PC-Programme. Aber parallel haben sich die Anforderungen an das Arbeiten deutlich verschärft - allein die Haushaltsaufstellung, wo jedes Jahr ein bisschen hinzukommt. Als ich in Ausbildung war, hieß es: Wir wollen Bürokratie abbauen. Aber ich muss konstatieren, dass in all diesen Jahren im Zweifel immer noch mal eine Schippe draufgeworfen wurde. Das belastet natürlich die Mitarbeiter und das Arbeiten. Denn - so berechtigt das auch sein mag: Man braucht den entsprechenden Personaleinsatz, und da wird es eng.

Inwiefern?

Seit anderthalb Jahren sind wir in einer schwierigen personellen Situation. 2021 hatten wir teilweise 25 Prozent Langzeiterkrankungen. Da bin ich froh, dass wir den Geschäftsbetrieb des Parlaments aufrechterhalten und Wahlen durchführen konnten. Es gab und gibt sehr kritische Situationen, die nur durch das hohe Engagement der Mitarbeiter, Überstunden und Mehrarbeit zu schultern sind. Die Situation ist nach wie vor knifflig. Nun steige ich schon in die Haushaltsplanung für 2023 ein. Außerdem muss ich den 21er-Haushalt noch abschließen und bin in der Prüfung der Jahre 2016 und 2017. Das ist ein schwieriger Drahtseilakt. Zeitliche Verzögerungen sind da nicht zu vermeiden.

In den nächsten Jahren kommen weitere Aufgaben hinzu - worum geht es da zum Beispiel?

In aller Munde ist die Grundsteuerreform. Es kommen nun Anfragen von Bürgern - und ich muss um Verständnis bitten: Wir können dort zurzeit nicht unterstützen, weil wir erst die technischen Voraussetzungen schaffen müssen. Darüber hinaus ist auch die Stadt selbst ein großer Grundsteuerzahler mit erheblichen Erklärungspflichten gegenüber der Finanzverwaltung. Deswegen müssen wir alle unsere städtischen Gebäude und Flächen ebenso ermitteln und bewerten - und das alles parallel im laufenden Betrieb mit den ganzen Vakanzen. Wir haben eine Deadline bis Oktober. Das ist richtig eng.

Macht Ihnen der Job unter den aktuellen Bedingungen noch Spaß?

Unter den derzeitigen Bedingungen: nein. Weil man sich im permanenten Krisenmodus befindet. Mein Anspruch ist es, strukturiert vorausblickend zu agieren. Das permanente Reagieren auf kurzfristig auftretende Probleme ist auf Dauer ineffizient. Man kann selten etwas abarbeiten, sondern muss komplexe Sachverhalte immer wieder abbrechen, um das nächste unaufschiebbare Problem zu lösen. An sich macht mir die Arbeit sehr viel Spaß - aber die derzeitige Situation ist unbefriedigend.

Ist eine Verbesserung in Sicht?

Meine Hoffnung ist, dass wir irgendwann wieder in ruhige Fahrwasser kommen. Aber wir stehen eben auch im Wettbewerb um Personal. Größere Kommunen können andere Gehälter zahlen. Es geht darum, sich mittelfristig Strategien zu überlegen, um Leute zu gewinnen - und auch halten zu können. Doch das ist schwierig, man sieht es auch bei Stellenausschreibungen: Heute bekommen wir vielleicht noch zehn bis 20 Prozent der Bewerbungen, die wir vor 20 Jahren hatten.

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