»Ich wollte unter den Leuten sein«

Vor mehr als drei Jahrzehnten hat Dieter Sandori seinen festen Platz in der Welt gefunden. Seit 1986 war er Pfarrer in Burkhardsfelden, später auch in Lindenstruth. Nun, kurz vor dem Ruhestand, zieht er Bilanz: »Einen anderen Beruf hätte ich mir kaum vorstellen können.«
Pfarrer wird Dieter Sandori sein Leben lang bleiben. Er darf weiter Gottesdienst halten, Brautpaare trauen, Verstorbene beerdigen. Aber seine Aufgaben als Gemeindepfarrer werden am morgigen Sonntag enden. Dann, wenn Propst Matthias Schmidt im Abschiedsgottesdienst die entscheidenden Worte spricht: Du bist jetzt frei von deinen Pflichten in Burkhardsfelden und Lindenstruth.
Burkhardsfelden und Lindenstruth: In diesen beiden Dörfern hat Sandori fast sein gesamtes Berufsleben verbracht. Ein Leben als Landpfarrer schwebte ihm schon vor, als er Mitte der 1980er Jahre, nach dem Vikariat, gemeinsam mit seiner Frau Ingrid Volkhardt-Sandori Ausschau nach einer Kirchengemeinde hielt. Die Pfarrstelle für Burkhardsfelden und Lindenstruth passte, denn die Eheleute gedachten, sich eine Stelle zu teilen. Zum 1. April 1986 fing Sandori in Burkhardsfelden an. Er ist mehr als 36 Jahre geblieben. In der Rückschau eine goldrichtige Entscheidung. »«Ich hatte nicht so das Bedürfnis, mich zu verändern«, sagt er.. »Ich bin durchweg zufrieden mit meinem Leben als Pfarrer.«
Der 65-Jährige neigt nicht zu Pathos. Das Wort »Berufung« haben andere gebraucht. Er selbst würde es nicht unbedingt verwenden. Aber er kann sich, wie er sagt, im Nachhinein kaum einen anderen Beruf für sich vorstellen.
Ins kirchliche Leben ist der gebürtige Osthesse wie selbstverständlich hineingewachsen. Seine Eltern, der Vater gelernter Schreiner, die Mutter Altenpflegerin, haben ihn christlich erzogen. Er ging in den Kindergottesdienst, ließ sich konfirmieren und nutzte später die Kirche mit anderen Jugendlichen als Treffpunkt. »Gottesdienst, Frühschoppen, Mittagessen«, so lautete der gewohnte sonntägliche Dreiklang. Alles ganz undogmatisch. Damals habe er die Freiheit kennengelernt, Angebote anzunehmen oder eben auch nicht. Eine prägende Erfahrung. »Diese Freiheit habe ich später auch anderen gegönnt.«
Seiner Religionslehrerin am Gymnasium in Hünfeld aber muss sein Interesse für Glaubensfragen aufgefallen sein. Sie gab der evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck einen Tipp, die schickte eine Einladung für einen Info-Tag. Auf dem Rückweg von Kassel war dem angehenden Abiturienten klar: »Ja, das mache ich. Ich werde Pfarrer.«
Studiert hat er in Erlangen, Göttingen und Marburg, sein Vikariat absolvierte er in Steinbach und Albach bei Pfarrer Ewald Steiner und bei der Diakonie. Dann die Pfarrstelle in Burkhardsfelden und, seit 2010, auch in Lindenstruth.
In den dörflichen Strukturen hat Sandori sich von Anfang an wohlgefühlt. »Anonym in der Großstadt, das wäre nichts für mich gewesen«, erzählt er. »Ich wollte unter den Leuten sein.« Und als Kind vom Dorf wusste er, wie man das anstellt. »Am Anfang habe ich Geburtstagsbesuche immer am Nachmittag gemacht. Da kommt die Familie. Da lernt man die Zusammenhänge kennen.« Dass er das Leben der Menschen in seiner Gemeinde so lange geteilt hat, empfindet er als Vorteil. Er konnte viele Familien über Generationen begleiten. Er hat junge Leute konfirmiert, getraut, ihre Kinder getauft und die ersten von ihnen auch schon beerdigt. »Mit einer Familie, mit der man Freude geteilt hat, auch das Leid zu teilen, ist eine Herausforderung«, sagt er. Und zudem eine lehrreiche Erfahrung. »Lebensläufe sind nicht so, dass es immer nur bergauf geht.«
Dieter Sandori ist mit Gottvertrauen an seine Arbeit herangegangen. »Menschen zu begleiten, war mir immer das wichtigste in meinem Beruf.« Von dem, was sich im Verhältnis der Menschen zur Kirche in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat, erzählt er mit einer großem Portion Gelassenheit. Zum Beispiel, dass die Tradition des Sonntagsgottesdienstes nicht mehr gepflegt werde. Als er in Burkhardsfelden anfing, waren 30 Leute in der Kirche wenig. Heute würde er sich an einem normalen Sonntag über eine solche Zahl freuen. Aber er hadert nicht damit. Er weiß: »Vielen reicht das. Sie gehören dazu und wenn sie die Kirche brauchen, ist sie da.« Der scheidende Seelsorger glaubt, dass er für dieses Da-Sein gestanden hat. »Das war mein Anspruch.«
Von massenhaften Austritten, wie sie gerade die katholische Kirche erlebt, ist der Pfarrer in seinen Dörfern lange verschont geblieben. Auf eine kirchliche Trauung legten die meisten Paare nach wie vor Wert. »Nur die Brautleute sind jetzt älter als früher.« Und dass nicht mehr alle Jugendliche eines Jahrgangs am Konfi-Unterricht teilnehmen, sei erst eine Entwicklung der letzten Jahre. Einen positiven Aspekt kann er der sinkenden Bindungskraft der Kirche übrigens auch abgewinnen. Dass die Angehörigen der verschiedenen Konfessionen und Gemeinschaften jetzt enger zusammenrücken, findet er gut. Aber von dem individualistischen Ansatz, dass man ohne Kirchenzugehörigkeit gläubig sein könne, hält Sandori wenig. »Glaube funktioniert nur in der Gemeinschaft und im gegenseitigen Austausch.«
In seinem Beruf hat sich der Pfarrer stets von der Überzeugung tragen lassen, dass man sich den Dingen, die auf einen zukommen, stellen muss. Genauso geht er an den bevorstehenden Ruhestand heran. »Ich habe keine To-do-Liste.« Dafür hat er Hobbys. Dass Sandori glühender Eintracht-Fan und Dauerkarten-Besitzer ist, hat der damalige Dekan Daum vor vielen Jahren beim 25-jährigen Ordinationsjubiläum verraten. Dass er ein Faible für Frankreich hat und einige Streckenabschnitte der Tour de France schon nachgefahren ist, hat sich mittlerweile auch herum gesprochen. Alles andere wird sich finden. »Die Tage werden Aufgaben haben. Und wenn nicht, dann werde ich es genießen, nicht mehr an den Terminkalender gebunden zu sein.« Allerdings: Ein paar feste Pläne gibt es doch. Eine Reise mit Frau und Enkelkindern nach Paris. Und dann, während des Resturlaubs und vor dem offiziellen Eintritt in den Ruhestand am 1. September, noch drei berufliche Verabredungen: die Trauung einer ehemaligen Konfirmandin, der Zeltgottesdienst zum nachgeholten Jubiläum der Burschen- und Mädchenschaft Burkhardsfelden und das Grußwort zu deren Festkommers. Dieter Sandori bleibt seinem Anspruch treu: Da sein, wenn er gebraucht wird.