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»Ich konnte nur noch denken und atmen«

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Von: Jonas Wissner

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Seit 1. Juli führt Dr. Bernd Wieczorek wieder die Amtsgeschäfte als Bürgermeister. »Gesundheit war für mich nie ein Thema, die hatte ich - und alles andere war wichtig. Das hat sich ganz klar verschoben«, sagt er. © Jonas Wissner

In 17 Jahren als Lollarer Bürgermeister war Dr. Bernd Wieczorek (63) nie krank, hat sich immer fit gehalten. Im Dezember infizierte er sich mit Corona, erkrankte schwer, war weitgehend gelähmt und musste wieder laufen lernen. Im Interview spricht Wieczorek über die Krankheit, Grenzerfahrungen und Corona-Leugner.

Herr Dr. Wieczorek, wie geht es Ihnen zurzeit?

Ich bin auf dem Weg der Besserung, so kann man es beschreiben. Und ich bin sehr glücklich darüber, dass ich wieder gehen kann.

Sie waren etwa ein halbes Jahr aufgrund einer schweren Autoimmunkrankheit nicht im Dienst. In der Dezember-Sitzung des Parlaments hieß es aus der Verwaltung, Sie seien in Quarantäne. Sie hatten sich damals mit Corona angesteckt.

Ich bin über meine Familie infiziert worden. Am 16. Dezember bin ich ins Krankenhaus gekommen, aber erst am nächsten Tag ist ein Corona-Test positiv ausgefallen. Das hatte eine Vorgeschichte. Vor Dienstbeginn gehe ich immer mal mit dem Hund spazieren - und bin dabei zusammengebrochen. Die Beine waren gelähmt. Ich habe gemerkt, da ist was nicht in Ordnung, bin in die Klinik und hatte das Glück, einen guten Oberarzt vorzufinden. Er hat sofort die Symptomatik erkannt, es als Guillain-Barré-Syndrom identifiziert und dann auch die Therapie eingeleitet - die allerdings zunächst kaum geholfen hat.

Was heißt das?

Ich war dreimal auf der Intensivstation, insgesamt mehr als drei Wochen, hatte immer wieder Rückschläge. Die Lähmungen haben zugenommen: Zunächst waren es nur die Beine, dann die Arme, dann war auch der Oberkörper betroffen. Ich konnte nur noch denken und atmen. Vom Kopf her war ich die ganze Zeit voll da - und das war das Schlimme. Manchmal hätte ich mir gewünscht, ich wäre nicht bei Bewusstsein gewesen, das gebe ich ehrlich zu. Ich habe drei Tage lang so gelähmt gelegen und dann dem Arzt gesagt: Legen Sie mich ins Koma, ich ertrage die Situation nicht. Die Lähmung stieg mehr und mehr hoch, und ich hatte starke Schmerzen.

Wie hat der Arzt reagiert?

Er hat gesagt, das kann und darf er nicht, da muss ich durch. Das sind Grenzerfahrungen, die ich gemacht habe. Ich habe damit gerechnet, dass auch die Lunge betroffen ist und ich intubiert werden muss. Die Familie wurde dann angerufen, sollte kommen, mit Vorsorgevollmacht und so weiter. Dann habe ich gemerkt, dass es besser wurde, die Lähmung nicht höher steigt. Die zweite Grenzerfahrung war, dass ich die Befürchtung hatte, ich kann nicht wieder laufen.

War Ihr Leben in Gefahr?

Ich bin kein Mediziner und kann das nicht beurteilen. Für mich war es nur furchtbar, dazuliegen und sich nicht bewegen zu können und damit zu rechnen: Die Lunge funktioniert bald auch nicht mehr. Und was ist dann? Ob das lebensbedrohlich ist, müssen Mediziner beurteilen. Es war jedenfalls bedenklich. Auf der gleichen Intensivstation lag auch Udo Weimer, ein guter Bekannter von mir. Er ist dann verstorben. Das ermutigt einen nicht.

Zu dieser Zeit waren viele Covid-Patienten auf den Intensivstationen. Wie haben Sie diese Umgebung erlebt?

Ich war auf der Covid-Intensivstation in Gießen der Einzige, der reden konnte. Alle anderen 23 waren intubiert, wurden alle vier Stunden gewendet. Ununterbrochen hat es überall gepiepst. Wenn Sie das links und rechts sehen, ist das nicht schön. Die Erkrankung hat mich völlig von den Füßen gehauen. Und in einer Zeit, in der ich völlig niedergeschlagen war, konnte ich nicht besucht werden. Meine Frau ist dann mal ans Fenster gekommen, meine Tochter war dort Ärztin, konnte mich zwei-, dreimal mit Ausnahmegenehmigung besuchen. Aber wie alle damals war sie voll verkleidet, zig Anzüge, Maske - ich habe sie gar nicht als meine Tochter erkannt. Es ist dann eine besondere Herausforderung, völlig allein damit zu sein. Das war schon schwierig. Es war eine schlimme Zeit, das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht.

Wie haben Sie es geschafft, sich zu motivieren, dagegen anzukämpfen?

Natürlich wollte ich gesund werden, aber motiviert war ich zunächst nicht. Sie liegen dann 24 Stunden am Tag da, schlafen mal, aber Sie können ja nichts machen. In der Reha-Klinik war ich dann in der Abteilung für Schwerst-Pflegefälle, alles Rollstuhl-Patienten. Ich habe gesehen, wie andere damit umgegangen sind, teils aufgegeben und gesagt haben: Dann bleibe ich halt im Rollstuhl. Da hatte ich schon eine andere Motivation: Ich wollte wieder laufen, auch meiner Familie zuliebe.

Welche Rolle hat die Unterstützung durch Ihre Familie in den vergangenen Monaten gespielt?

Die Familie hat mir unheimlichen Rückhalt gegeben, gerade meine Frau. Nun musste sie sich um alles kümmern, das hat sie top gemacht. Die ganze Familie hat mich in allen Bereichen unterstützt. Und das ist unersetzlich.

Wie ist der Zusammenhang zwischen der Autoimmunerkrankung und Ihrer Corona-Infektion?

Meine Tochter und ich haben viel gegoogelt und Ärzteblätter gelesen. Wir haben relativ früh erfahren, dass es bundesweit mehr als 200 Fälle gab wie meinen, das heißt Corona in Verbindung mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Es ist eine Autoimmunerkrankung, bei der die eigenen Antikörper, die eigentlich dafür da sind, mich zu schützen, meine eigenen Nervenzellen zerstören. Das Immunsystem kippt um und greift mich selbst an. Das wurde ausgelöst durch die Corona-Infektion. Die Ärzte an der Uni-Klinik haben sich da sehr bedeckt gehalten, weil es auch für sie völliges Neuland war. Wir haben dann aber gelesen, dass sich die Landesärztekammer dazu in dieser Weise geäußert hat: Covid kann diese Erkrankung auslösen. Vom Verlauf hat es auch genau zugetroffen, für mich ist der Zusammenhang zu Corona nachvollziehbar.

Sie sind promovierter Sportwissenschaftler, haben sich immer fit gehalten. Trotzdem hat die schwere Krankheit Sie erwischt. Was macht das mit einem?

Ich war völlig aus dem Leben gerissen, niedergeschlagen, habe die Welt nicht verstanden. Dann stellt man sich auch die Frage: Warum passiert mir das? Ich war doch immer kerngesund. Ich war nie krank. Da macht man sich Gedanken: Mensch, du bist jetzt schon drei, vier Monate krank und bekommst dein Gehalt. Da hatte ich ein schlechtes Gewissen, ich bin einfach so erzogen. Als Entschuldigung für mich habe ich dann gedacht: Ich war aber 17 Jahre vorher überhaupt nicht krank, nicht einen Tag - wenn ich das jetzt umrechne, habe ich ja jedes Jahr nur eine Woche und drei Tage krank gemacht.

Wie sehr hat der Wille, wieder gesund zu werden, zur Genesung beigetragen?

Als ich in der Reha gemerkt habe, dass ich am Gehbarren die Beine wieder drei, vier Zentimeter nach vorne bewegen konnte, war das ein Signal für mich, da hat es irgendwie klick gemacht. Das war unglaublich, ab dem Moment ging es nur bergauf. Zur gleichen Zeit hat mein Enkel, er war acht, neun Monate alt, auch Laufen gelernt. Ich habe dann immer die Videos geschickt bekommen und gesagt: Ich bin mal gespannt, wer zuerst laufen kann von uns beiden. Das war dann ein kleiner interner Wettkampf.

Schließlich sind Sie sehr schnell wieder auf die Beine gekommen.

Das hat keiner verstanden, auch die Ärzte nicht. Es hat mir geholfen, dass ich immer Sportler war. Die Körperzellen haben sich erinnert: Du konntest gehen! Ich bin manche Nächte durchgelaufen, war wie besessen, da hat es mich gepackt. Erst habe ich Schritt für Schritt laufen gelernt, dann mit dem Gehbock, die nächste Stufe war der Rollator - das ging bei mir fließend. Mit dem Muskulaturaufbau war es ähnlich. Ich hatte 22 Kilogramm abgenommen, beim Blick in den Spiegel habe ich gesagt: Das bist du gar nicht. Ich hatte keine Muskulatur mehr. Das kann man sich nicht vorstellen.

Sie haben viele gute Wünsche aus der Bevölkerung und der Politik erhalten. Inwieweit spielt das in dieser Situation eine Rolle?

Das hilft enorm, ist nicht zu unterschätzen und war für den Genesungsprozess ganz wichtig. Da kam wirklich wahnsinnig viel - aber ich war nicht in der Lage, es zu beantworten. Man kämpft, und ich wollte nicht jedem erzählen, wie schlecht es mir eigentlich geht. Ich hatte auch keine Lust zu lügen, mit Floskeln wie: Das wird schon.

Im vergangenen Jahr waren Sie als Bürgermeister schon stark mit Corona beschäftigt. Lollar war phasenweise ein Inzidenz-Hotspot, auch wegen der Pflegeheime. Inwiefern hat sich ihr Blick auf das Virus durch Ihre Krankheit verändert?

Ganz entscheidend. Wenn Sie persönlich betroffen sind, sehen Sie das aus einem ganz anderen Blickwinkel. Vormals hat man das ganz nüchtern betrachtet, man steht nebenan, ist selbst nicht betroffen und kann es relativ objektiv abarbeiten. Das wird mir jetzt sicherlich nicht mehr gelingen, weil ich diese Erkrankung natürlich sehr ernst nehme. Ich möchte nicht, dass jemand aufgrund irgendeiner Nachlässigkeit ähnliche Erfahrungen machen muss wie ich.

Wie blicken Sie auf Menschen, die die Gefährlichkeit von Covid leugnen?

Diese Idioten von »Querdenkern« und so weiter kann ich überhaupt nicht verstehen, das muss ich ganz klar sagen. Menschen, die das alles negieren, sich nicht impfen lassen - ich kann es nicht verstehen. Ich war auch nicht unbedingt ein Impf-Freund, aber wenn Sie selbst betroffen sind und so ein Krankheitsbild erlebt haben, denken Sie einfach ganz anders. Das hat vieles in mir verändert.

Hat sich Ihr Blick auf das Bürgermeisteramt, auf Ihre Arbeit nun gewandelt?

Es öffnet einem die Augen, dass es einfach nichts Wichtigeres gibt als die Gesundheit. Man sagt das ja immer als Floskel. Ich habe jetzt erlebt, dass es so ist. Das verschiebt die Lebensschwerpunkte: Gesundheit war für mich nie ein Thema, die hatte ich - und alles andere war wichtig. Das hat sich ganz klar verschoben. Deswegen nun auch die Wiedereingliederung, die noch einen Monat geht. Ich nehme mir jetzt die Freiheit: Wenn es nicht geht - ich habe noch Taubheitsgefühle in den Beinen und in den Armen - dann nehme ich mich zurück, setze Prioritäten. Man muss auf seine Gesundheit achten, und das wird sicherlich auch berufliche Auswirkungen haben.

Inwiefern?

Man hat als Bürgermeister viele Stresssituationen und man muss gelassener und ruhiger damit umgehen. Wo ich früher hochgegangen wäre, einen dicken Hals gehabt hätte, da gehe ich nun anders mit um. Das merke ich jetzt schon.

Gehen Sie davon aus, dass Sie die Krankheit ganz besiegen werden?

Ich hoffe es. Wenn der Heilungsprozess anfängt, können sich die Nervenzellen um einen Millimeter am Tag regenerieren. Da wären wir bei drei Jahren, um dann wieder vollständig hergestellt zu sein und keine Taubheit mehr zu spüren. Die motorischen Nerven funktionieren bei mir, aber nicht die sensorischen. Das muss sich noch regenerieren - in der Regel klappt das bei dem Krankheitsbild. In 90 Prozent der Fälle tritt ein Heilungsprozess mit partiellen Ausfällen ein. Ich kann schon jetzt fast alles machen, kann schreiben, fahre Fahrrad. Selbst wenn es so wie jetzt bleibt, bin ich glücklich.

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