»Hurra, du bist ein Schulkind«

2500 Kinder in Stadt und Landkreis Gießen erleben in diesen Tagen ihre erste Unterrichtsstunde. Acht von ihnen gestern in Inheiden, wo es insgesamt nur 30 Schüler gibt. Ein ganz besonderer Tag in der kleinsten Schule im Kreisgebiet.
Ein Pavillon steht auf dem Hof vor der Grundschule Inheiden, Holzbänke wurden darunter und drum herum aufgestellt, außerdem eine Musikanlage und Mikrofone im Eingangsbereich. Elternpaare und ihre mit Ranzen und Zuckertüten ausgestatteten Kinder trudeln ein. Hier wird noch ein Hemd in die richtige Position gezupft, da ein ermutigendes Wort mit auf den Weg gegeben. Anspannung liegt in der Luft. Wie viele Gleichaltrige erleben die jungen Stadtteil-Hungener an diesem Morgen ihren ersten Schultag. Der gestaltet sich ähnlich wie andernorts und doch wieder nicht. Denn die Grundschule Inheiden ist die kleinste im Kreisgebiet. Nur ein Mädchen und sieben Jungen wurden gestern eingeschult, unterrichtet wird jahrgangsübergreifend.
Es ist 8.45 Uhr. Schulleiter Uwe Hartings trifft die letzten Absprachen. Die Erstklässler und ihre Eltern versammeln sich in einem der drei Klassenräume. Nach einer kurzen Begrüßung setzt sich der Trupp in Bewegung. Begleitet von den übrigen 22 Schülern geht es im Gänsemarsch in Richtung Friedhof. In der Trauerhalle hält Pfarrer Martin Möller den Schulanfangsgottesdienst, denn eine Kirche gibt es im Dorf nicht. Unterwegs wird am Kindergarten haltgemacht, um die dortigen »Großen« mitzunehmen, sich die letzten Umarmungen und guten Wünsche der Erzieherinnen abzuholen und auf dem Rückweg ein kleines Präsent.
2500 Kinder erleben an den 52 Grundschulen in Stadt und Landkreis Gießen in dieser Woche ihren ersten Schultag. 9272 Mädchen und Jungen besuchen dann laut Staatlichem Schulamt den Primarbereich - also die Grundschulklassen sowie Eingangsstufe, Vorklasse und das Angebot des flexiblen Schulanfangs. Für sie alle wird die Einschulung ein besonderer Tag sein. Für die Inheidener aber doch irgendwie anders: kleiner, familiärer, gemeinschaftlicher.
Dorfbewohner stehen an der Straße und nehmen Anteil, während sich die Schulgemeinde in Richtung Trauerhalle und zurück bewegt. Autofahrer halten an und winken dem Tross freudig zu. Der Pfarrer hat einen Beutel voller Geschenke mit in den Gottesdienst gebracht, die Kindergärtnerinnen liebevoll verzierte Muffins für die neuen Erstklässler gebacken. »Hurra, du bist ein Schulkind« steht darauf. »Das ist hier einfach eine andere Welt«, sagt Uwe Hartings. »Wir sind noch eine richtige Dorfschule, die im Ort integriert ist.« Die Vereine engagieren sich mit vielen Angeboten im Rahmen von Unterricht und Betreuung. »Die ganze Dorfgemeinschaft steht hinter der Schule.«
Eine andere Welt ist in Inheiden aber auch der Schulbetrieb selbst. Hier wird jahrgangsübergreifend unterrichtet - Erst- und Zweitklässler ebenso zusammen wie Dritt- und Viertklässler. Hier sorgt ein 2011 von Eltern gegründeter Förderverein und nicht der Landkreis mit dem Pakt für den Nachmittag für die Betreuung der Kinder vor und nach dem Unterricht. Und hier ist der Rektor quasi »Mädchen für alles«, wie er sagt. Hartings organisiert, verwaltet, unterrichtet und zieht auch schon mal den grauen Kittel über, wenn der Hausmeister nicht da ist. Und das kommt gar nicht so selten vor, denn er ist ebenso wie die Sekretärin nur einmal in der Woche vor Ort.
Mittlerweile ist es kurz nach zehn. Die Erstklässler haben ihren Segen und sind zurück auf dem Schulhof, wo sie die vorderen Holzbänke in Beschlag nehmen. Kurz darauf wird es musikalisch, mitunter ziemlich laut und sehr bewegungsintensiv. Die Dritt- und Viertklässler haben ein kurzes Begrüßungsprogramm vorbereitet - ein Auszug aus der Playback-Show, die für das Sommerfest auf die Beine gestellt worden war. Dann gibt es wieder Geschenke, diesmal im Namen des Fördervereins, überreicht von dessen Vorsitzenden Christian Hötterges, bevor Lehrerin Meike Ludwig die »i-Dötzchen« zu ihrer ersten Unterrichtsstunde mit in den Klassenraum nimmt, während die wartenden Eltern sich bei Kaffee, Kuchen und Small Talk die Zeit vertreiben. Und währenddessen lässt bei Groß und Klein langsam aber sicher die Anspannung nach.