Das Rathaus im Dorf

Lange Zeit war fast jedes Dorf eine eigene Gemeinde - und hatte somit auch einen eigenen Verwaltungssitz. Mit der Gebietsreform änderte sich dies allerdings. Beispielhaft für die vielen Rathäuser, die einst in den Dörfern standen und bei denen man längst diese Funktion vergessen hat, ist die Geschichte des Obbornhofener Rathauses.
Heutzutage wird über die fehlende Bürgernähe so mancher Verwaltung geschimpft. Bis vor 50 Jahren war die Nähe, der direkte Kontakt mit den Menschen in fast jedem Dorf Standard. Dass man abends nochmal schnell beim Bürgermeister klingelte, um was zu erledigen, war keine Seltenheit. Oder dass man kurzerhand aufs Rathaus ging - und zwar zu Fuß. Denn da fast jedes Dorf eine eigene Gemeinde bildete, gab es auch in jedem Ort eine Verwaltung.
Noch heute zeugen Straßennamen wie »Alter Rathausplatz« in Muschenheim oder die »Rathausgasse« in Langd davon.
Es war die Zeit vor der Gebietsreform. Während es in den Städten schon größere Rathäuser mit einem kleinen Verwaltungsstab gab - selbstverständlich nicht in den heutigen personellen Dimensionen -, hatte auch jede selbstständige Gemeinde eine eigene Verwaltung. Dort arbeiteten zwei bis drei Personen, nicht unbedingt in Vollzeit. Mancherorts übernahmen die Verwaltungsarbeit allein der Bürgermeister, der dies auch noch neben einem normalen Job erledigte.
Ein Gendersternchen würde sich an dieser Stelle übrigens nicht lohnen: Als Margard Kafka 1972 in Villingen Bürgermeisterin wurde, war sie eine der ersten Frauen in diesem Amt in ganz Hessen.
Einer dieser Bürgermeister und »Mädchen für alles« war Erich Henzel in Obbornhofen. Von 1945 bis 1956 und 1960 bis 1976 saß er im Rathaus des Dorfes, um die Amtsgeschäfte zu leiten. Ordnungsamt, Bauamt, Finanzverwaltung - er war es in Personalunion. »Damals wurde noch persönlich mit dem Bürgermeister über den Hausbau gesprochen«, erinnert sich Wolfgang Leschhorn vom örtlichen Heimatverein. Nicht selten bedeutete dies für Henzel einen Ortstermin auf einem Acker oder einer Wiese. Sein Amtssitz - in dem er freilich nicht wohnte - war ein Gebäude mit Historie. Laut Hungener Stadtchronik wurde das Obbornhofener Rathaus 1535 erbaut und gilt als das älteste Fachwerkrathaus im Landkreis Gießen - es ist selbst 50 Jahre älter als das in Grünberg. Der Bau erfolgte im gotischen Stil. Über die Jahrhunderte dürften die Amtsstuben einiges gesehen und erlebt haben.
Saniert für 400 000 Mark
Dann kam die Gebietsreform. Personal hat diese nicht wirklich eingespart: Beispielsweise umfasst die Mitarbeiterliste der Hungener Stadtverwaltung heute über 50 Personen. Jedoch sind diese in ihren Bereichen hochspezialisiert, Generalisten wie Bürgermeister Henzel sind heute nicht mehr denkbar und würden zudem von findigen Anwalten leicht ausgekontert werden.
Obbornhofen zog es bei der Gebietsreform eigentlich in Richtung Wetteraukreis. »Nach Wölfersheim, auch wegen der Telefonvorwahl«, sagt Eberhard Müller vom Heimatverein. Da die Gemeinde jedoch schuldenfrei war, war sie ein attraktiver »Heiratskandidat«, der schließlich 1977 in Hungen per Landesgesetz »zwangseingemeindet« wurde. In den Köpfen orientieren sich viele jedoch noch heute in Sachen Einkaufen und anderen Angeboten Richtung Süden: »Friedberg ist 15 Kilometer, Gießen 28 Kilometer weg«, sagt Müller.
Nach der Gebietsreform war der Fachwerkbau kein Rathaus mehr. Es gab aber eine Nachnutzung. Eine Filiale der Sparkasse und das Stadtarchiv waren darin lange Zeit untergebracht. Schließlich fiel der Entschluss, das Bauwerk in die Verwaltung des 1967 gegründeten Heimatvereins zu übergeben, der nebenan bereits das Heimatmuseum betrieb. Zuvor sollte das Gebäude für 250 000 Mark saniert werden. Als die Arbeiten begannen, wurden jedoch die Spuren der Zeit und schlechter Reparaturarbeiten der vergangenen Jahrzehnte sichtbar.
Am Ende standen 400 000 Mark zu Buche, die in der Kommunalpolitik für viel Diskussionen sorgten. Heute freilich würde man sich bei vielen kommunalen Bauprojekten eher freuen, wenn die Mehrkosten nur 75 000 Euro betragen.
Ort zum »Ja«-Sagen
1992 wurde das Gebäude an den Heimatverein übergeben, der es anschließend mit neuem Leben füllte. Zahlreiche Sonderausstellungen fanden darin statt, zuletzt 2013. Zudem ist es seit einigen Jahren ein Ort zum »Ja«-Sagen: In der Außenstelle des Standesamts Hungen gaben sich bereits viele Paare das Ja-Wort, um anschließend in der Scheune des angrenzenden Heimatmuseums zu feiern.
So ist das Obbornhofener Rathaus nicht wirklich ein »Vergessener Ort«. Viele andere Rathäuser auf den Dörfern ereilte jedoch ein anderes Schicksal. Das Nonnenröther Rathaus wurde beispielsweise abgerissen, andernorts wurden die Gebäude verkauft.