Bahnstrecke zwischen Hungen und Gießen wird 150 Jahre alt - In Zukunft muss sich etwas ändern

Am 29. Dezember 1869 wurde die Bahnstrecke zwischen Hungen und Gießen offiziell eingeweiht, hat seitdem auch Krisenzeiten überstanden. Damit noch mehr Menschen die Bahn nutzen, muss sich jedoch etwas ändern.
Die erste Vorführung von »Die Ankunft eines Zuges« der beiden Franzosen Auguste und Louis Lumiére gilt als Geburtsstunde des Mediums Films - genau heute vor 124 Jahren am 28. Dezember 1895. Die Menschen in Hungen, Lich, Langsdorf, Garbenteich und Watzenborn-Steinberg konnten zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahrzehnten live und in Farbe direkt vor ihrer Haustür die Bahn vorbeifahren sehen: Am 29. Dezember 1869 wurde die Bahnstrecke Hungen-Gießen offiziell eingeweiht - ebenso wie die Strecke Grünberg-Gießen. Bis 1871 ließ die private »Oberhessische Eisenbahngesellschaft« Zug um Zug weitere Abschnitte bauen, bis das Gleis schließlich Gelnhausen erreichte.
In den Anfangsjahren verkehrten nur wenige Züge pro Tag und Richtung, war neben dem Personenverkehr der Gütertransport bedeutsam: Kohle und weitere Brennstoffe wurden nach Mittelhessen gefahren, Eisenerze, Düngekalk und landwirtschaftliche Produkte wie Zuckerrüben in Güterwaggons abtransportiert. 150 Jahre später existiert auf der Bahnstrecke praktisch nur noch Personenverkehr, sind die Dampfloks schon lange Dieseltriebwagen gewichen. Nur aus der Tongrube im Schiffenberger Wald rollen noch heute Waggons bis nach Italien.
Die Schranken werden nicht mehr von Wärtern bedient, die Fahrkarten kommen aus dem Automaten. Die zahlreichen Nebenbahnen - etwa von Hungen nach Laubach oder Lich nach Grünberg - sind längst wieder abgebaut, werden heute bestenfalls als Radweg genutzt. Nur das Stellwerk in Lich mit Mechanik aus dem Jahr 1925 hat die Zeiten überdauert.
Bahnstrecke veränderte Region
Doch nicht nur die Technik auf der Bahnstrecke hat sich in den 150 Jahren verändert. Die Bahn hat auch die Region geprägt. Dieter Eckert und Jürgen Röhrig haben für ihr Buch »Anschluss an den Weltverkehr« die Geschichte der Oberhessischen Eisenbahn zwischen Hungen und Gießen recherchiert. Der Buchtitel ist dabei doppeldeutig: Denn die Region erhielt nicht nur einen Anschluss an den Weltverkehr, sondern auch an die weite Welt - und dies war keine Einbahnstraße.
Als ein Beispiel für die Entwicklung, die die Bahnlinie beschleunigte, nennt Dr. Georg Erhardt die Entwicklung der Industrie im Schiffenberger Tal: »Die Bahn war da, dann folgte die Industrie.« Die Maschinenfabrik Heyligenstaedt, die Gail’schen Tonwerke, Bänninger und die Gail’sche Zigarrenfabrik siedelten sich dort an. »Das waren Weltfirmen. Da war der Güterverkehr eine Grundvoraussetzung.« Die Unternehmen hatten alle einen Bahnanschluss, um ihre Waren auf die Märkte in der Welt zu bringen. »Fuhrwerke waren im Verhältnis sehr teuer«, sagt Erhardt.
Die Fabriken brauchten nicht nur einen Anschluss an den Weltmarkt, sondern auch Arbeiter. Diese wohnten in Gießen und Orten im Umland. »Den Arbeiterverkehr auf der Bahnstrecke gibt es seit den 1890er Jahren«, sagt Röhrig. Da wundert es schon, dass erst am 2. Januar 1929 der Bahnhaltepunkt »Erdkauter Weg« in Betrieb ging. Die Firmen im Schiffenberger Tal hatten zuvor Jahrzehnte um solch einen Halt für ihre Mitarbeiter gekämpft.
Nicht zuletzt war die Bahn selbst ein großer Arbeitgeber. »Die Fuhrleute und Postkutscher wurden weniger«, sagt Röhrig. »Dafür gab es mehr Berufe wie Bahnwärter, Schaffner, Lokführer und Bahnerhaltungsarbeiter.«
Krise in den 80ern
Die Bahnstrecke beschleunigte so einen Prozess in den Orten in ihrer Umgebung: die Industrialisierung, den Wandel weg von einer Agrargesellschaft. Immer mehr Menschen hängten die Harke an den Haken und gingen einem anderen Beruf nach. »Die Landwirtschaft wurde hier schneller aufgegeben«, sagt Erhardt. »Auch in Garbenteich kam durch die Industrie Geld ins Dorf.« Dies lässt sich noch heute am Ortsbild erkennen - viele Häuser im Zentrum wurden in dieser Zeit neu errichtet oder umgebaut. Innerhalb von drei Generationen folgte der Wandel vom Vollerwerbslandwirt über die Landwirtschaft nebenbei bis zur Aufgabe des eigenes Hofs.
Als 1912 in Garbenteich Kreide abgebaut und per Bahn verladen wurde, war dieser Prozess bereits in vollem Gange. Als 1965 Büromöbelhersteller VOKO den Betrieb in der neuen Werkszentrale in Garbenteich aufnahm, steckte die Bahn bereits in der Krise. Der Wohlstand sorgte dafür, dass immer weniger Menschen in den Zug stiegen. »Alles setzte aufs Auto«, sagt Röhrig. Dies lässt sich an den Fahrkartenverkäufen deutlich ablesen: Wurden 1947 in Hungen über 193 000 und in Lich rund 166 000 Tickets verkauft, waren es 1977 in Hungen nur noch 44 765 und in Lich 36 967. Bis 1987 sank die Zahl auf 13 434 in Lich und 21 941 in Hungen. Dies lag auch daran, dass die Zahl der Züge reduziert, der Sonntagsverkehr eingestellt und bei der Bahn extrem gespart wurde.
Dass es heute noch die Bahnstrecke gibt, hat mehrere Gründe: 2001 übernahm die Butzbach-Licher Eisenbahn die Bahnstrecke. Zudem stiegen immer mehr Schüler und Studenten in den Zug, um nach Hungen, Nidda, Lich und Gießen zu kommen. »Davon hat die Bahnstrecke profitiert«, ist sich Erhardt sicher.
Bahnsteige zu kurz
Mittlerweile hat die Bahnstrecke ein Allzeithoch erreicht: So viele Züge wie derzeit waren hier noch nie auf den Gleisen unterwegs. Ein bisschen Luft nach oben gibt es noch, für ein paar Züge mehr sei Platz, sagt Röhrig. Sollten jedoch noch mehr Menschen ihr Auto stehen lassen und in die Bahn steigen, müsste in Bahnhöfe und Gleisanlagen investiert werden: Denn für längere Züge sind viele der Bahnsteige auf der Strecke einfach zu kurz.
Am Sonntag, 29. Dezember, spricht im Stadtmuseum Pohlheim um 14.30 Uhr Bernd Vielsmeier zum Thema »Von London über Nidda nach Konstantinopel - 150 Jahre Oberhessische Eisenbahn«. Der Eintritt ist frei.