Aufrüttelnde Erfahrung

Hungen (pm). »Das Gelände ist ja riesig«, kam es Vincent (17) über die Lippen, nachdem das Eingangstor von Auschwitz-Birkenau passiert worden war. In der Tat machte die schiere Größe des ehemaligen Vernichtungslagers auf die meisten Schüler einen nachhaltigen Eindruck. Andere betonten in der abendlichen Gesprächsrunde den Kontrast zwischen der heutigen Idylle und der grauenvollen Geschichte des Lagergeländes.
In unmittelbarer Nähe der Wiese, auf der am Tag des Besuchs ein Reh friedlich äste, befanden sich vor 80 Jahren Baracken, in denen Tausende zumeist jüdische Menschen unter unmenschlichen Bedingungen zusammengepfercht waren. Ihre einzige Zukunftsaussicht war der Tod. Einige Baracken sind noch erhalten, und die Gedenkstättenmitarbeiterin Weronika geht mit der Hungener Gruppe in zwei von ihnen. Für ihre Erläuterungen nimmt sie sich die Zeit, die sie braucht. Die sich rasch einstellende Beklemmung will auch später im Freien nicht mehr verschwinden.
Es sind diese und ähnliche Erfahrungen, die den Geschichtslehrer Armin Trus zur Organisation solcher Gedenkstättenfahrten veranlassen. »Kein Quellentext, keine Fotografie im Unterricht kann das ersetzen«, so seine feste Überzeugung.
Ungeheuerlichkeit bricht sich Bahn
In diesem Jahr umfasste seine Gruppe 21 Schüler der Jahrgangsstufen 10 und 11. Die Studienreferendarin Laura Schaller und die mittlerweile pensionierten Lehrkräfte Harriet Kühnemann und Reinhard Hamel waren als zusätzliche Betreuer ebenfalls mitgefahren.
Nach der Ankunft ging es los mit einer vierstündigen Besichtigung von Auschwitz I, dem ehemaligen sogenannten Stammlager. Auch hier wohnten die Häftlinge, so der ehemalige Auschwitz-Insasse Jean Amery, mit dem Tod nicht Tür an Tür, sondern in demselben Raum.
Die Vitrinen mit den Haaren, den Brillen, den Schuhen und anderen Besitztümern zeugen sowohl vom Ausmaß der Entmenschlichung der Inhaftierten wie auch von der Verwertungsgier ihrer Peiniger.
Vier Stunden dauert auch die eingangs erwähnte Führung über das Gelände von Auschwitz-Birkenau am darauffolgenden Tag. Besonders augenfällig sind die Überreste der Ende 1944 von der SS zerstörten Gaskammern und Krematorien. Die Häftlinge des sogenannten Sonderkommandos mussten die zur Ermordung bestimmten Menschen nach dem Auskleiden in die Gaskammern führen. Durch Öffnungen in der Decke oder in den Wänden wurde das Blausäuregas Zyklon B in die mit mehreren Hundert Menschen gefüllten Räume geschüttet. Nach etwa 20 Minuten wurden die mit einem Entlüftungssystem ausgestatteten Gaskammern geöffnet, und das Sonderkommando brachte die Leichen zu den Krematorien. Vor den Ruinen eines Krematoriums bittet Weronika eine Schülerin, eine Passage aus dem Protokoll der Befragung eines Überlebenden des Sonderkommandos vorzulesen. Lea-Sophie (16) beginnt zu lesen, doch bereits nach wenigen Worten versagt ihr die Stimme den Dienst und sie weint - die Ungeheuerlichkeit des Geschriebenen bricht sich Bahn.
Wie sehr die Überlebenden von Auschwitz unter ihrer Haftzeit bis an ihr Lebensende zu leiden hatten, offenbart auf eindrückliche Weise die Ausstellung von Zeichnungen des Bühnenbildners Marian Kolodziej im Franziskaner-Kloster von Harmeze. Kolodziej war vom ersten Tag der Existenz des Lagers (14. Juni 1940) bis zu seinem Ende in Auschwitz inhaftiert.
Beeindruckende Zeichnungen
Fast 50 Jahre hatte er über Auschwitz nicht gesprochen. Veranlasst durch eine Krankheit, begann er in den 90er Jahren seine zutiefst verstörenden »Gedächtnisplatten« zu zeichnen. Seine von ihm selbst konzipierte Ausstellung begriff er als den »Brief eines alten Mannes an sich selbst vor 55 Jahren. Ausdruck der Ehrerbietung für alle, die - zu Asche geworden - verschieden sind«. Neben der Erfahrung »Auschwitz-Birkenau« empfanden viele Schüler den Besuch dieser Ausstellung als das beeindruckendste Erlebnis der Studienfahrt.
Während ihres fünftägigen Aufenthalts in Polen besuchte die Gruppe auch jüdische Museen und Friedhöfe. Ebenfalls auf dem Programm standen zwei Workshops im Archiv des Museums Auschwitz.
In einer abschließenden Besprechung betonten die Schüler, dass die Woche insgesamt zwar anstrengend gewesen sei, dass sie aber keinen einzigen Programmpunkt hätten missen wollen. Daher blicken alle Teilnehmer auf eine ebenso lehrreiche wie aufrüttelnde Studienfahrt zurück.
Sie bedanken sich bei denjenigen Stellen, die durch ihre Förderung das aufwendige Unternehmen erst ermöglichten: die Hessische Landeszentrale für politische Bildung, der Landkreis Gießen, die Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung in Lich sowie die Stadt Hungen.