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Hilfe auf Augenhöhe

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Von: Stefan Schaal

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Vor gut zwei Jahren stand die Tafel in Watzenborn-Steinberg vor dem Ende, es fehlte ihr an ehrenamtlichen Helfern. Gerettet wurde das Angebot nach einem Aufruf in der Zeitung. Inzwischen zeichnet sich die Tafel in Pohlheim durch einen von außergewöhnlicher Freundlichkeit geprägten Charakter aus.

Draußen nähert sich eine Frau dem geöffneten Fenster. Mit fragendem Blick schaut sie hinein, zum ersten Mal sucht sie die Tafel in Watzenborn-Steinberg auf. Es ist eine Situation, die häufig mit Unsicherheit, bisweilen auch mit Scham verbunden ist - es es ist ein Eingeständnis, bedürftig zu sein und Hilfe zu benötigen. Doch drinnen sitzt Doris Stadelmann vor dem Fenster und bricht innerhalb weniger Sekunden das Eis.

»Ich freue mich, dass Sie hier sind«, sagt Stadelmann. Wenige Momente später erzählt die Frau draußen von ihrer Tochter und ihrem Sohn, während sie zwei Kisten mit Lebensmitteln erhält und fünf Euro zahlt. Plötzlich ist es ein Gespräch auf Augenhöhe, wie unter Bekannten.

Etwas mehr als zwei Jahre ist es her, da stand die Tafel in Pohlheim vor dem Aus. Der Außenstelle in Watzenborn-Steinberg gingen die Helfer aus. Die Ehrenamtlichen hatten zum überwiegenden Teil das 80. Lebensjahr erreicht, in der Pandemie zählten sie außerdem zur Risikogruppe. Im März 2020 musste die Tafel in Pohlheim schließen, das Ende schien besiegelt. Ein Aufruf in der Zeitung allerdings ermöglichte die Rettung. Neue Freiwillige meldeten sich und bildeten zwei neue Teams mit jeweils fünf Ehrenamtlichen.

Es ist ein hochsommerlicher Montagnachmittag, kurz vor 14 Uhr. Prof. Helge Stadelmann und seine Frau schließen das Thomas-Haus nahe der Alten Kirche auf. Sie rücken Stühle und Sessel zur Seite, machen Platz. Gleich wird draußen der Lastwagen mit Lebensmitteln haltmachen.

Das Angebot in Pohlheim ist eine Außenstelle der Gießener Tafel. Eine Stunde später kommen bereits die ersten Kunden. Renate Otto, eine der Helferinnen, nimmt einen großen Schluck aus einer Flasche Wasser. »Was mich motiviert, hier zu helfen? Ich bin ein Homeoffice-Mensch«, sagt sie. Der Kontakt mit Menschen, »die Freude an der Zusammenarbeit« seien für sie der hauptsächliche Antrieb, erklärt Otto, die beruflich in der klinischen Forschung tätig ist. Alle 14 Tage sei sie hier im Einsatz, die beiden Teams in Pohlheim wechseln sich wöchentlich ab. Sie habe auch schon mal für die Tafel in Gießen gearbeitet, erzählt Otto. »Hier in Pohlheim ist es viel ruhiger, entspannter.«

Draußen stellt sich der 27 Jahre alte Ishoua Hanna vor das Fenster. »Hallo Herr Hanna«, sagt Doris Stadelmann. So gut wie jeden Kunden grüßt sie mit Namen. Hanna sei ein Sportler, ernähre sich gesund, erklärt sie. »Er isst dunkles Brot. Und keinen Zucker.« Aus Spaß hätten sie ihm schon mehrfach süße Stücke angeboten, er lehne aber immer dankend ab. Als Hanna einen Laib dunkles Brot entgegennimmt, posiert er für einen Augenblick, lässt lachend die Muskeln spielen. Viele Gespräche laufen an diesem Nachmittag in einer derartig gelösten Atmosphäre ab.

273 Pohlheimer erhalten derzeit Unterstützung durch Lebensmittel von der Tafel, darunter 85 Kinder unter 14 Jahren, berichtet Holger Claes, der Leiter des Diakonischen Werks. Die Zahl der hilfsbedürftigen Menschen, die die Tafel aufsuchen, sei in den vergangenen Monaten gewachsen, auch durch viele Flüchtlinge aus der Ukraine, während die Spenden abgenommen haben. »Wir haben es in diesem Jahr in Gießen heftig gespürt«, räumt Claes ein.

In Pohlheim habe man diese Entwicklung bisher wenig wahrgenommen, sagt derweil Stadelmann. Eine deutliche Zunahme der Menschen, die die Tafel in Watzenborn-Steinberg aufsuchen, stelle er in den vergangenen zwei Jahren nicht fest.

Ehrenamtliche wie in Pohlheim halten das Angebot aufrecht. »Mir ging es im Leben immer gut«, sagt Helge Stadelmann. Er wolle Menschen helfen, die es schwerer haben. »Uns ist das persönliche Verhältnis mit den Menschen, die die Tafel aufsuchen, wichtig«, sagt er. Am Anfang habe er von der Tafel ein Namensschild mit seinem Professoren- und Doktortitel bekommen. »Das habe ich weggelassen. Wir wollen uns hier als Menschen begegnen, ohne dabei Distanz aufzubauen.« In den ersten Wochen der ehrenamtlichen Tätigkeit vor zwei Jahren sei es unter den Leuten auch mal zu Streitigkeiten gekommen, wer zuerst Lebensmittel erhält. Seit einem knappen Jahr erlebe er das nicht mehr. »Wir haben deutlich gemacht, dass jeder an die Reihe kommt.«

Für eine Kiste mit Lebensmitteln zahlen die Menschen, die sich vorher bei der Tafel anmelden müssen, drei Euro, für zwei Kisten fünf Euro. »Es ist ein symbolischer Betrag«, sagt Stadelmann. »Das ist für die Würde der Leute wichtig. Für uns sind sie Kunden und Gäste, nicht Bittsteller.«

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