»Glaubt ihr, dass das passiert ist?«

Neuntklässler der Adolf-Reichwein-Schule haben sich gestern anlässlich des Holocaust-Gedenktags mit der Shoa und mit den nationalsozialistischen Verbrechen auch an Pohlheimer Juden befasst. »Es ist wichtig, dass wir Jugendlichen uns damit beschäftigen«, sagt die 14 Jahre alte Helin Bayram. »Sonst könnte so etwas wieder passieren.«
Auf einer grauen, asphaltierten Hoffläche, die heute als Parkplatz dient, bleiben die Schüler stehen. Die Jugendlichen, die meisten von ihnen sind 14 und 15 Jahre alt, beugen sich über vier Messingplatten, die im Bordstein eingelassen sind. Laut lesen sie die Namen vor, die auf den Platten stehen. Hier, am Kreuzplatz in Watzenborn-Steinberg, sagt Simone van Slobbe vom Pohlheimer »Stolpersteine«-Verein, habe einst das Haus der Familie Katz gestanden. Isidor und Hilde Helene Katz, erklärt sie, seien im Oktober 1942 in Treblinka ermordet worden. Ein Schüler runzelt die Stirn. »Warum, wenn ich fragen darf?«
Anlässlich des Holocaust-Gedenktags haben sich Neuntklässler der Adolf-Reichwein-Schule am gestrigen Donnerstag mit der Shoa und mit den nationalsozialistischen Verbrechen auch an Pohlheimer Juden beschäftigt.
Als die Jugendlichen in kleinen Gruppen aufbrechen, sind ihre Gespräche anfangs noch gelöst und belanglos. Zwei Schüler rechnen während des Wegs zu den Stolpersteinen türkische Lira in Euro um, einer fragt: »Wo gehen wir eigentlich hin?« Es ist neblig und grau. Als die erste Gruppe mit einem Dutzend Schülern am Kreuzplatz ankommt, zieht ein Anwohner gegenüber seine Rollladen hoch, nachdem er die Stimmen der Jugendlichen gehört hat. Eine Minute später lässt er sie wieder ratternd herunter. Ein Schüler bleibt auf den Stolpersteinen stehen, schenkt ihnen keine Beachtung. »Geh da mal runter«, fordert ihn eine Klassenkameradin auf. »Ich kriege ein schlechtes Gewissen.«
Dann fängt van Slobbe an, von der Familie Katz zu erzählen. Und innerhalb weniger Augenblicke wandelt sich die Atmosphäre, die Schüler stellen Fragen, sie werden stiller.
Van Slobbe zeigt ein altes Foto des Hauses und der Nachbargebäude. Ein Schüler nimmt das Bild genauer in Augenschein, er stellt sich auf die Straße und erkennt die Nachbarhäuser, die heute noch stehen. »Respekt«, ruft er aus. Das Wort mag nicht so recht passen. Und doch beginnt er in diesem Moment, als er das Foto in der Hand hält, einen Bezug zwischen der Gegenwart und der Zeit des Nationalsozialismus herzustellen.
Van Slobbe erzählt unterdessen, wie die Familie Katz und weitere Pohlheimer Juden enteignet und nach Gießen in die Goetheschule verfachtet wurden. Sie berichtet vom damals zehn Jahre alten Siegbert Werner Katz, der am Morgen des 10. November 1938 die Synagoge brennen sah und als Kind die Entscheidung traf: Er konnte nicht in Deutschland bleiben. Er floh mit seinem Bruder im Januar 1939 nach Eindhoven, von dort aus ging es weiter nach Amsterdam. Dort wurde er von Otto Frank, dem Vater Anne Franks, unterrichtet. Siegbert Werner Katz lebt noch heute, »in den USA«, erzählt van Slobbe. Watzenborn aber betrachte er weiter als seine Heimat.
Er sei damals geflüchtet wie heute ein Asylbewerber, merkt eine Schülerin mit aramäischen Wurzeln an. Auch in ihrer Familie gebe es Erinnerungen an Verfolgung, Ermordung und Genozid, zieht sie Parallelen.
Schließlich fragt van Slobbe, ob sie auch erzählen soll, wie Familie Katz im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurde. Die Schüler nicken. Dann liest van Slobbe vor, wie die deportierten Menschen dort unter Schlägen in die Gaskammer getrieben wurden, wie ihnen gesagt wurde, dass es sich um Duschkabinen handle. »Die Auspuffgase eines Dieselmotors wurden in die Kammern geleitet. Nach 20 bis 30 Minuten waren alle tot.«
Der Holocaust sei ein Teil deutscher Geschichte, betont eine Schülerin auf dem Rückweg. »Es ist hart«, sagt sie. Sie müsse die Informationen erst verarbeiten. Ein Schüler gesteht, sich zum ersten Mal mit dem Thema ernsthaft zu beschäftigen.
Im Lauf des Tages geben die Schüler in Computern außerdem Namen und Lebensdaten von Transportlisten aus Konzentrationslagern ein. Im Rahmen der Arolsen Archives helfen die Jugendlichen damit, dass Menschen im Internet letzte Spuren von Angehörigen, die durch die Nationalsozialisten ermordet wurden, finden können. »Wir geben das Alter ein, die Größe, die Gesichtsform. Und plötzlich habe ich Menschen vor Augen«, sagt eine Schülerin. Durch diese Arbeit gewinne sie auch selbst einen weiteren persönlicheren Bezug zur Geschichte des Holocaust.
Schüler zünden derweil am Kreuzplatz Kerzen an, stellen sie rund um die Stolpersteine. »Glaubt ihr auch, dass das wirklich passiert ist?«, fragt van Slobbe einmal. Die Schüler nicken. Sara Mirga, eine der Jugendlichen, antwortet: »Ich weiß, dass es passiert ist. Meine Uroma war in einem Konzentrationslager. Sie hat überlebt.« In ihrer Familie werde aber kaum darüber gesprochen.
Die Kerzen flackern. »Es ist auch wichtig, zu wissen, was damals in Pohlheim passiert ist«, sagt die 15 Jahre alte Zilan Can. »Es tut weh«, erklärt Helin Bayram. »Aber es ist wichtig, dass wir uns damit beschäftigen.« Sie ergänzt: »Sonst könnte es wieder passieren.«
Auch in der Theo-Koch-Schule wurde am gestrigen Donnerstag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht, ein Bericht dazu auf Seite 37.