Vater soll Säugling geschüttelt haben, bis dieser fast tot war

Ein Mann soll sein fünf Wochen altes Kind so stark geschüttelt haben, dass es fast gestorben ist. Es erlitt möglicherweise irreparable Verletzungen am Gehirn. Nun steht der Vater in Gießen vor Gericht.
Gießen – Selten verhandeln Gerichte Fälle, in denen die Frage der Schuld zwar hohe Bedeutung hat und geklärt werden muss - und sie gleichzeitig so stark überschattet wird von ganz anderen, menschlichen Fragen: Wie geht es einem Kind heute, dem als Säugling im Alter von fünf Wochen zu Hause in einem Dorf im Landkreis Gießen schwere Verletzungen am Kopf zugefügt wurden, sodass es Blutungen und Quetschungen am Gehirn erlitt und fast gestorben ist? Wird der Junge aufgrund der Folgen des Vorfalls jemals ein normales Leben führen und sprechen können?
Der am gestrigen Mittwoch (24.11.2021) eröffnete Prozess vor einem Schöffengericht des Gießener Amtsgerichts ist die juristische Aufarbeitung einer Tragödie, die inzwischen mehr als vier Jahre zurückliegt. An einem späten Nachmittag im Juni 2017 wird ein Notarzt in die Wohnung gerufen. Ein Säugling, 35 Tage alt, schwebt in Lebensgefahr. Die Arme des Kindes hängen reglos herab, das Gesicht ist fahl. Mehrfach kommt es zum Atemstillstand. Der Vater habe immer wieder leicht den Brustkorb des Kindes massiert, erzählt die damals benachrichtigte Hebamme der Familie als Zeugin. »Dann hat sich das Kind wieder bewegt, und im Gesicht war wieder Leben.«
Ärzte an Gießener Uniklinik retten Säugling das Leben
Der Säugling wird damals in die Gießener Uniklinik eingeliefert, Ärzte retten ihm dort das Leben. Zunächst gehen sie von einer Hirnhautentzündung als Ursache aus. Doch wenig später sind sich die Mediziner einig: Eine Hirnblutung und Quetschungen des Gehirns wurden durch ein Schütteltrauma ausgelöst. Unter Anklage steht nun der Vater des Kindes. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, den Sohn durch schweres Schütteln misshandelt zu haben.
Der 28 Jahre alte Mann schweigt zu den Vorwürfen. Vom Tag des Vorfalls berichtete allerdings seine Frau, die von dem Angeklagten mittlerweile getrennt lebt. Damals, erzählt sie, habe kurz vorher die Hebamme die Familie besucht. Gemeinsam hätten sie den Säugling gewogen und gebadet. Anschließend, berichtet die Frau, habe sie ihre Mutter zu einem Arzttermin begleiten müssen. »Mein Mann hat allein auf die drei Kinder aufgepasst.« Dieser habe den Sohn zum Schlafen in ein Tuch eingewickelt und in einen Laufstall gelegt. Sie habe beim Arzt im Wartezimmer gesessen , als ihr Mann sie angerufen habe. Aufgeregt habe er über den Sohn gesagt: »Er atmet nicht.«

Tragödie im Kreis Gießen: Frau glaubt an die Unschuld ihres Mannes
Zwei Wochen später sei sie erneut geschockt gewesen, als Ärzte der Familie deutlich machten, dass die Verletzungen am Gehirn wohl durch körperliche Misshandlung ausgelöst wurden. »Ich habe Rotz und Wasser geheult.«
Bis heute glaube sie an die Unschuld ihres Mannes, erklärt die Frau. »Ich habe ihn als liebevollen Vater erlebt. Ich würde für ihn die Hand ins Feuer legen.« Sie kenne ihn seit 2013. »Ich habe ihn nicht einmal aggressiv oder gewalttätig erlebt.«
Sie vermute andere Ursachen für die Verletzungen ihres Sohnes. Vielleicht liege ein genetischer Defekt vor, mutmaßt sie. »Die Großmutter hat ihn außerdem am Abend vorher gehalten, der Kopf ist für einen Moment nach hinten gekippt.« Sie und die Hebamme berichteten aber, dass ihnen an dem Kind vor der mutmaßlichen Misshandlung des Angeklagten keine Verletzung aufgefallen sei.
Eltern aus dem Kreis Gießen waren wohl mit Säugling überfordert
Deutlich wurde in den Aussagen der Frau allerdings auch, dass die Familie in einer Situation steckte, die die Eltern möglicherweise überforderte. Bei beiden war eine psychische Borderline-Erkrankung festgestellt worden. Zum Zeitpunkt des Vorfalls waren sie arbeitslos, steckten offenbar in finanziellen Schwierigkeiten. Mit den im selben Haus lebenden Großeltern kam es immer wieder zu Streitigkeiten. Der mutmaßlich misshandelte Sohn hat eine Zwillingsschwester. Das Elternpaar stand damals vor der neuen Aufgabe, sich um insgesamt drei gemeinsame Kinder zu kümmern.
Eine Sozialarbeiterin des Jugendamts des Gießen Landkreises sprach von »deutlichen Überforderungstendenzen« der Eltern. Die Uniklinik hatte das Amt nach dem Verdacht einer Misshandlung eingeschaltet. Im November 2017 hatte das Jugendamt Strafanzeige gestellt, vor Gericht tritt es als Nebenkläger auf. Das Jugendamt hat alle drei Kinder der Familie bei unterschiedlichen Pflegeeltern untergebracht.
Schwieriger Gerichtsprozess in Gießen: Zweiter Verhandlungstag wird entscheidend
Eine Kinderkrankenschwester, die die Familie kurz nach dem Vorfall betreute, erklärte, sie habe den Angeklagten als »rational und wenig gesprächsbereit« erlebt. Bei den Eltern habe »die Emotionalität für die Kinder gefehlt«. Als die Ärzte die Vermutung einer Misshandlung des Säuglings ausgesprochen hatten, habe die Mutter gefragt: »Was wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte?« Die Hebamme berichtete, der Angeklagte habe sie an dem Tag des Vorfalls gefragt, ob man beim Halten des Säuglings das Becken leicht schaukeln dürfe, um so gegen Blähungen des Kindes vorzugehen. Sie habe davon abgeraten.
Die Frau des Angeklagten machte indes auch darauf aufmerksam, dass dieser hin und wieder unter epileptischen Anfällen leide. Zweimal habe sie dies nachts erlebt. »Sein ganzer Körper hat sich verkrampft. Am nächsten Morgen hat er sich daran nicht erinnert.«
Viel in dem äußerst schwierigen Gerichtsverfahren in Gießen wird von der Einordnung des Vorfalls durch zwei Sachverständige am kommenden Verhandlungstag am 15. Dezember abhängen. Zu klären ist dabei, ob die Verletzungen des Kindes eindeutig auf ein Schütteln oder eine Misshandlung zurückzuführen sind.
Kreis Gießen: Geschädigtem Kind geht es „Umständen entsprechend sehr gut“
Gegen Ende des ersten Verhandlungstags wurde dann die wichtigste Frage beantwortet: wie es dem Kind heute geht. »Den Umständen entsprechend sehr gut«, sagte die Pflegemutter. Es sei lebhaft, besuche halbtags eine Kita. Motorisch habe es keine Probleme. Allerdings könne der inzwischen vier Jahre alte Junge kaum sprechen, beherrsche nur 300 Wörter. »Gemeinsam lernen wir die Gebärdensprache.« Entwicklungsstörungen seien erheblich, das Kind leide unter Mikrozephalie, das Gehirn wachse nicht. Nach Gesprächen mit Ärzten sei dies eindeutig auf die Blutung und Quetschung am Gehirn vor vier Jahren zurückzuführen. (Stefan Schaal)
Einer anderer aufsehenerregender Prozess in Gießen beschäftigt sich mit dem gewaltsamen Tod eines Mannes in Daubringen.