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„Leben um 180 Grad gedreht“: Wie eine Frau aus dem Kreis Gießen gegen ihre MS-Erkrankung kämpft

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Von: Christina Jung

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An ihrem Küchentisch sitzt Kerstin Kubon viel und gerne, recherchiert im Netz, telefoniert, engagiert sich für ihren Heimatort und die Patientenkampagne »trotz MS«. FOTO: TI © Tina Jung

Als sie mit 47 Jahren die Diagnose MS bekam, brach für Kerstin Kubon aus Trais-Horloff eine Welt zusammen. Jetzt will sie anderen dabei helfen und die Öffentlichkeit sensibilisieren.

Hungen – Kerstin Kubon sitzt an ihrem Küchentisch. Durch ein Fenster fällt Licht in den kleinen Raum, in dem sich moderne und urige Einrichtungselemente ein Stelldichein geben. Alte Kaffeemühlen versus Hightech-Kocher. Hier, in einem Fachwerkhaus in der Ortsmitte Trais-Horloffs, ist die gebürtige Baden-Württembergerin zu Hause, seitdem es sie Ende 2015 der Liebe wegen in den Hungener Stadtteil verschlug.

Hier erzählt die sympathische, offene und tatkräftig wirkende 53-Jährige aus ihrem Leben und nichts lässt darauf schließen, dass ihr die Tatkraft im Alltag viel häufiger fehlt, als es ihr Alter und der Anschein vermuten lassen. Denn Kerstin Kubon ist krank. Sie leidet an Multipler Sklerose.

Diagnose MS: Kerstin Kubon lebt mit Multipler Sklerose

»Ich werde mich jetzt gleich erst mal hinlegen«, sagt sie mit Blick auf das nahende Ende des Gespräches. Denn schon kleine Tätigkeiten bedeuten für die Trais-Horlofferin eine große Anstrengung - typisch für die entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmark umfasst und meist im Erwachsenenalter beginnt.

Mehr als 252.000 Menschen in Deutschland leiden unter Multipler Sklerose, auf die in diesen Tagen vielerorts der Fokus gerichtet ist. Denn am 30. Mai wird zum 14. Mal der Welt-MS-Tag begangen - initiiert von der »Multiple Sclerosis International Federation« um aufzuzeigen, wie die immer noch unheilbare Krankheit das Leben von rund 2,8 Millionen Frauen und Männern weltweit beeinflusst.

Kerstin Kubon erhielt ihre Diagnose am 27. November 2016. Sie erinnert sich daran, als wäre es gestern gewesen. Kein Wunder, denn von diesem Tag an war ihr Dasein ein anderes. »Mein Leben hat sich um 180 Grad gedreht«, sagt sie. Überbracht wurde ihr die Nachricht im Rahmen einer Visite in der Gießener Uni-Klinik, in der sie sich zu dieser Zeit stationär aufhielt, da in den Monaten zuvor die ersten motorischen Störungen aufgetreten waren: Taubheitsgefühl der Zunge, dauerhaft verändertes Geschmacksempfinden, Doppelbilder, Gesichtsfeldeinschränkung.

Kreis Gießen: Wie Kerstin Kubon die Diagnose MS erhielt

»Gesehen habe ich irgendwann nur noch grau und verschwommen«, erzählt Kubon. Ihr Arzt schickte sie in die Augenklinik, von dort aus ging es in die Neurologie und nach verschiedenen Untersuchungen stand Ende November 201 6 fest, dass sie unter der »Krankheit der 1000 Gesichter« leidet. Zwei Wochen vor ihrer Hochzeit. Ein Schock.

»Das war ganz, ganz schlimm. Ich wusste ja nichts über MS und hatte so viele Fragen«, erzählt Kubon. »Werde ich im Rollstuhl sitzen oder sogar sterben? Was wird aus meinen Kindern? Warum ich?« Angst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit - Kubons Gefühle fuhren Achterbahn.

Heute weiß die dreifache Mutter erwachsener Kinder, dass viele ihrer damaligen Sorgen unbegründet waren. Dennoch bedeutete die Diagnose einen massiven Einschnitt in ihr Leben. Zwangsweise lernte die einst 150-prozentige, perfektionistisch veranlagte, tatkräftige Vertriebsassistentin in einem IT-Unternehmen, dass sie ihre Ansprüche zurückschrauben, achtsamer mit sich umgehen und ruhiger werden muss. »Das ist ein Prozess. Und der dauert an«, sagt sie. Unterstützung findet sie auf diesem Weg bei ihrem Mann, ihren beiden Töchtern und ihrem Sohn. Außerdem helfen ihr der Austausch mit anderen Betroffenen und dass sie ein »sehr, sehr positiver Mensch« ist, wie sie sagt.

Diagnose MS: Kerstin Kubon aus dem Kreis Gießen lässt sich nicht unterkriegen

Grundsätzlich unterscheiden Mediziner bei der MS, deren Ausprägung sehr unterschiedlich und deren genaue Ursache nicht geklärt ist, drei Arten der Erkrankung: die schubförmig remittierende MS (RRMS), die sekundär progrediente MS (SPMS) und die primär progrediente MS (PPMS). Kerstin Kubon leidet unter der SPMS. Sie tritt in aufgesetzten Schüben auf, deren Symptome - Taubheitsgefühl, Lähmungserscheinungen, neuropathische Schmerzen - sich in der Regel teilweise oder vollständig zurückbilden. Dazu kommen Begleitbeschwerden wie Depressionen, Fatigue (Erschöpfung) oder eingeschränkte Konzentration.

Vor mehr als 20 Jahren wurde bei Hanspeter Gruber die Krankheit Multiple Sklerose diagnostiziert. Nun ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Als Mitglied im Fahrgastbeirat des Landkreises wehrt er sich gegen die Bauweise von Bussen des Herstellers Mercedes.

Wie Kerstin Kubon mit all dem umgeht? »Ich nehme mir Zeit für Dinge und tue sie bewusster«, sagt die Frührentnerin. »Ich beginne meinen Tag gemütlich und überlege dann, was heute für mich geht, was mir mit meiner aktuellen physischen und psychischen Situation möglich ist«, sagt sie. Von langfristigen Planungen habe sie Abstand genommen. Denn wenn diese krankheitsbedingt scheitern, sind Enttäuschungen vorprogrammiert. »Das tut meiner Seele einfach nicht gut. Deshalb plane ich nur so viel, wie ich auch schaffen kann.« Und sie nimmt Hilfsmittel in Anspruch - spezielle Apps, einen cloudbasierten Sprachdienst, Gehstöcke, Rollator oder Rollstuhl. Vor der Zukunft hat sie heute keine Angst mehr.

Aber natürlich gibt es auch Tage, an denen die Multiple Sklerose die 53-Jährige emotional runterzieht. »Dann ziehe ich mich zurück und möchte niemanden sehen«, sagt Kubon. Unterkriegen lässt sie sich aber nicht. Sie arbeitet dagegen an, macht Bewegungstraining, engagiert sich als Ortsvorsteherin und in der Öffentlichkeitarbeit der seit 2017 bestehenden Patientenkampagne »trotz MS«. Das sei ihr wichtig, sagt Kubon. Zum einen, um gesunde Menschen, die oft wenig bis gar nichts über MS wüssten, für die Krankheit zu sensibilisieren. Zum anderen, um neu Erkrankten zu sagen, dass es ein Leben mit der Krankheit gibt. (Christina Jung)

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