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Gärtnern ohne eigenen Garten

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Von: Ursula Sommerlad

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Angela Kunert und Enkel Marvin suchen weitere Interessenten, die in Inheiden ihr eigenes Gemüse anbauen und sich mit Gleichgesinnten austauschen wollen. © Ursula Sommerlad

Selbst Gemüse anbauen und sich mit Gleichgesinnten austauschen - das geht auch ohne eigenen Garten. Angela Kunert hat in diesem Frühjahr in Inheiden auf einem ehemaligen Getreidefeld ein Gemeinschaftsprojekt gestartet. Sie möchte es gerne ausbauen.

Die Leute haben schon viel geerntet«, sagt Angela Kunert. Sie steht am Ortsrand von Inheiden. Auch hier hat es in den vergangenen Wochen kaum geregnet. Mangold und Kohl sind trotzdem gut gewachsen. Knallrot leuchten die Tomaten und zwischen wuchernden Grün entdeckt man Melonen, prall und rund wie Fußbälle. Ein paar Schritte von ihrem Wohnhaus entfernt bestellt die 71-Jährige gemeinsam mit ihrem Enkel Marvin ein 150 Quadratmeter großes Pflanzstück. Sie sind nicht die Einzigen, die den fruchtbaren Wetterauer Boden beackern. Kunert hat im Frühjahr ein besonderes Projekt gestartet und zum gemeinschaftlichen Gärtnern aufgerufen. Sie stellt Interessierten, die ihr eigenes Gemüse anbauen wollen, gegen eine Aufwandsentschädigung Land zur Verfügung.

Die Inheidenerin ist in der Landwirtschaft groß geworden. Sie und ihre Familie leben naturverbunden mit Hühnern, Kaninchen, Schafen und anderem Getier. Doch sie weiß, dass selbst auf dem Dorf viele Kinder und Jugendliche keinen Schimmer mehr haben, wie das Essen, das auf ihrem Teller liegt, produziert wird. Und sie hat im Supermarkt die Seufzer in der Gemüseabteilung gehört: »Es wird ja alles immer teurer...« So kam sie auf die Idee, Parzellen für Selbstversorger anzubieten. Vor allem Familien mit Kindern hatte sie dabei im Blick. Und auch ein bisschen sich selbst. Die Initiatorin hatte vor einigen Jahren einen Schlaganfall. »Das Gärtnern ist für mich Bewegungstherapie«, sagt sie.

Kunert besitzt zwischen der Bundesstraße und dem Köstgraben einen 4000 Quadratmeter großen Acker. Bis vergangenes Jahr war er verpachtet, ein Landwirt baute dort konventionell Getreide an. Mehr als genug Fläche also für das Gartenbauprojekt. Sie bereitete 15 Parzellen vor und schaltete dann eine Anzeige im Licher Wochenblatt: »Gemüse, Salate, Kräuter, Erdbeeren und Co. ökologisch selbst anbauen. Von Anfang März bis Ende Oktober auf einer sehr gut vorbereiteten Fläche.« Auch der Naturschutzbund Horlofftal warb für die Idee.

»Am Anfang haben sich viele gemeldet«, erinnert sich die Inheiderin. Aber dann seien etliche Interessenten mit ganz unterschiedlichen Begründungen wieder abgesprungen. Aus der eigentlichen Zielgruppe, Familien mit Kindern, ist niemand übrig geblieben. Dafür gärtnern Marvin und seine Großmutter jetzt Seite an Seite mit zwei Frauen aus der Umgebung. Eine bewirtschaftet gleich mehrere Parzellen mit zusammen 150 Quadratmetern, die andere beschränkt sich auf 50 Quadratmeter. »Das ist auch schon ’ne Fläche«, findet Kunert, die ihren Mitgärtnerinnen viel Arbeit abnimmt. Sie bereitet die Flächen zum Bepflanzen fix und fertig vor, stellt gehäckseltes Stroh als Mulch zur Verfügung und in einem Tank Wasser zum Gießen. Vor allem aber gibt es bei Bedarf gute Ratschläge.

»Wir lassen niemanden im Regen stehen«, sagt die Inheidenerin. Wenn sie selbst nicht weiter weiß, hat sie Experten an der Hand. »Einen Bio-Landwirt und eine Kräuterfrau«, erzählt sie.

Gewirtschaftet wird auf den Pflanzstücken unter ökologischen Gesichtspunkten. »Wir hacken nicht. Wir lassen die kulturbegleitende Flora stehen«, sagt Kunert und muss selbst ein bisschen über diesen neumodischen Begriff lachen. »Das Wort habe ich auswendig gelernt...« Egal, wie man es nennt: Das gute alte Unkraut darf in Inheiden jedenfalls sprießen. Die Mulchschicht aus gehäckseltem Stroh sorgt dafür, dass es nicht überhand nimmt und auch, dass der Boden nicht austrocknet. »Wir müssen nicht gießen«, unterstreicht Kunert. »Selbst in diesem Sommer nicht.« Größere Mengen an Wasser seien lediglich während der Pflanzzeit erforderlich. »Man muss die Pflanzen so erziehen, dass sie Pfahlwurzeln bilden«, erläutert Kunert. Dann könnten sie später Feuchtigkeit aus den tieferen Bodenschichten ziehen. Sie schaut sich auf ihrem Pflanzstück um und nickt zufrieden. »Es funktioniert.«

Im kommenden Jahr möchte sie ihr Projekt gerne ausweiten. Zwei Interessenten, die sich für die laufende Gartensaison zu spät gemeldet hatten, stehen fürs Frühjahr 2023 bereits auf ihrer Liste. Und vielleicht finden sich ja doch noch Familien mit Kindern, die es unter fachkundiger Begleitung mal mit dem Gartenbau probieren wollen.

Stephan Kannwischer vom NABU hat die Idee unter anderem in der Grundschule Inheiden publik gemacht. »Zurück zu den Wurzeln zu finden, natürliche Lebensgrundlagen zu verstehen sowie Ehrfurcht vor der Natur zu entwickeln, wäre sicherlich ein Gewinn für Kinder und auch für ihre Eltern«, so hat er im Frühjahr in einer Pressemitteilung für das Gartenprojekt geworben.

Einen Jugendlichen jedenfalls hat Angela Kunert schon von den Freuden des Gartenbaus überzeugt: ihren Enkel Marvin. »Macht Spaß«, sagt er knapp. Auch die Aufschrift auf dem T-Shirt, das der 13-Jährige trägt, lässt keine Missverständnisse zu: »Nur der Held fährt aufs Feld.«

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