Für ein Leben in Würde

Wenn ein Verein 25 Jahre wird, knallen normalerweise die Sektkorken. Doch das wird dem Zweck eines in Annerod ansässigen Fördervereins nicht gerecht: Er setzt sich für Wachkoma-Patienten und deren Angehörige ein. Nun legt der Vorstand eine beeindruckende Bilanz vor.
Sie liegt in ihrem Bett oder sitzt in ihrem Rollstuhl und sieht aus wie du und ich - die Haut, alles. Alles ist einfach ganz normal«, sagt Helga Gibietz. Wenn sie versucht, Außenstehenden den Zustand ihrer Schwägerin Edeltraud Hangg zu beschreiben, kann sie selbst im Grunde noch immer nicht fassen, was vor einem Vierteljahrhundert in der unmittelbaren Nachbarschaft in Annerod geschehen ist.
Weit mehr als »nur« Nachbarschaftshilfe
»Edi«, wie ihre Freunde die inzwischen 67-Jährige nennen, hatte in der Nacht zum 4. April 1996 hochgradiges Herzkammerflimmern. Der Ehemann, von einem Stöhnen geweckt, hatte sie bewusstlos vorgefunden. Nach Herzstillstand, erfolgreicher Wiederbelebung und Aufenthalt auf der Intensivstation und in einer Neurologischen Klinik kam die Ehefrau und Mutter zweier heranwachsender Kinder schließlich auf die Sonderstation für Wachkoma-Patienten des Pflegeheims St. Anna in Gießen. Aufgrund der Schwere der Erkrankung und wegen der zum Lebensunterhalt notwendigen Berufstätigkeit des Ehemanns gab es zu einer kostenintensiven Unterbringung der Patientin in einem geeigneten Pflegeheim keine Alternative.
Dass »Edi« auch 25 Jahre später noch in St. Anna fachgerecht betreut werden kann, ist einer Initiative zu verdanken, die weit über »normale« Nachbarschaftshilfe hinaus ging und geht. Um nicht nur ideelle, sondern auch materielle Hilfe leisten zu können, wurde in Annerod bereits im September 1996 der »Förderverein für Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen Fernwald« (kurz »Förderverein Wachkoma«) gegründet.
»Damals mussten ganze Familien befürchten, wegen eines solchen Schicksalsschlages unverschuldet zum Sozialfall zu werden«, erinnert Dekan und Pfarrer i. R. Rolf Klingmann, als er gemeinsam mit weiteren Vorstandsmitgliedern vor Pressevertreterinnen im Evangelischen Gemeindehaus zurückblickt. Als Gemeindepfarrer war er seinerzeit unmittelbar eingebunden und hatte viele Hebel in Bewegung gesetzt, um zu helfen. Seine Überzeugung: »Patienten im Wachkoma sind keine Sterbenden, sondern kranke, schwerkranke Menschen.«
Gesetzlich geregelte Unterstützung zur häuslichen oder stationären Pflege war seinerzeit noch Zukunftsmusik; die Pflegekasse übernahm maximal 3750 D-Mark der monatlichen Kosten für Koma-Patienten wie Edeltraud Hangg - die tatsächlichen Kosten waren allerdings doppelt so hoch. »Die Familie kommt um Haus und Hof«, befürchteten Freunde, Nachbarn und Verwandte. Heutzutage sind bei vergleichbaren Fällen monatlich gut und gerne 4000 bis 5000 Euro erforderlich. Zwar haben sich die gesetzlichen Grundlagen längst geändert - aber selbst bei einer Unterstützung durch die Pflegekasse, in der Größenordnung von etwa 3200 Euro, bleibt immer noch ein erheblicher Betrag zu stemmen.
Die Idee, durch einen Förderverein sowohl ideell als auch finanziell zu helfen, war im Schicksal von Joachim »Jo« Deckarm begründet, der enge Verbindungen zur Familie Eggert in Annerod pflegte: Seit einem schweren Unfall beim Europapokalspiel in Tatabanya (Ungarn) am 30. März 1979 ist der Handball-Weltmeister von 1978, mehrfache deutsche Meister, deutsche Pokalsieger und Europapokalsieger behindert. Deckarm war zunächst ins Koma gefallen. Dass er daraus vier Monate später erwachte, machte den Fernwäldern Hoffnung, eines Tages auch wieder ihre Mitbürgerin »Edi« unter sich zu wissen.
Bei der Gründungsversammlung des Fördervereins beschloss man die nach wie vor gültige Vereinssatzung, für die es faktisch kein Vorbild gab. Schnell waren rund 200 Mitglieder beisammen.
Die Summe der messbaren Unterstützungsleistungen - etwa für Spezialhilfsmittel wie Rollstühle oder Computer und besondere Therapien - beläuft sich inzwischen auf rund 270 000 Euro. Eine stattliche Summe für einen Verein, der lokal begrenzt agiert.
Heute hat die Initiative noch rund 150 Mitstreiter aus Annerod und Umgebung. »Im Laufe der Jahre ist - meist aus biologischen Gründen - die Mitgliederzahl und parallel dazu auch die Spendenbereitschaft erheblich gesunken«, merkt Klingmann an. Beim Blick in die Vereinsbilanz stellt Kassenwart Reiner Trinks fest, dass allein im Zeitraum von 2001 bis 2020 Beiträge in der Größenordnung von rund 97 000 Euro sowie 100 000 Euro an Spenden von Institutionen, Vereinen und Einzelpersonen eingegangen sind.
Mit vergleichsweise spektakulären Aktionen wie etwa einem Benefizspiel der ehemaligen Handball-Nationalmannschaft im April 1997 oder der Begegnung der Prominentenmannschaft von Schalke 04 gegen eine Bezirksauswahl kam ebenfalls viel Geld in die Kasse des Fördervereins.
Die Einnahmen bilden den Grundstock, um gezielt finanzielle Hilfe leisten zu können: Das betrifft über regelmäßig anteilige Kosten (etwa zu einem Heim- oder speziellen Reha-Aufenthalt) besonders Hilfsmittel und teils auch Medikamente, die von der Krankenkasse nicht erstattet werden.
Ein wesentlicher und in der Satzung verankerter Gedanke ist es, neben der öffentlichkeitswirksamen Information über Wachkoma und den Konsequenzen für die Betroffenen und deren Angehörige den Beistand nicht auf einheimische Familien zu beschränken. So gehören seit fast 20 Jahren Kinder, Jugendliche und Erwachsene in einem Radius von rund 50 Kilometern zum Kreis derer, die beim Förderverein Beratung suchten und/oder finanzielle Hilfen in Anspruch nahmen. Drei Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen hat man Delfintherapien ermöglicht. Klingmann zollt seinen Mitstreitern im Vorstand ein großes Lob für ihren Einsatz: »Ich bin sehr dankbar, dass es euch gibt«.
Den Vorstand des Fördervereins Wachkoma bilden Vorsitzender Rolf Klingmann, dessen Stellvertreterin Rosemarie Wießner, Kassenwart Reiner Trinks, dessen Stellvertreter Ulrich Wießner, Schriftführerin Helga Gibietz und die Beisitzer Inge Becker, Horst Kreiling und Petra Niesel (weitere Informationen gibt es unter www.wachkoma-fernwald.de).