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Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen: Freitodbegleiterin berichtet über ihre Erfahrungen

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Von: Ursula Sommerlad

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Dass jemand vor der Entscheidung zurückschreckt, hat die Freitodbegleiterin aus dem Kreis Gießen noch nicht erlebt. (Symbolbild)
Dass jemand vor der Entscheidung zurückschreckt, hat die Freitodbegleiterin aus dem Kreis Gießen noch nicht erlebt. (Symbolbild) © DPA Deutsche Presseagentur

Inge Menges kennt den Tod. Sie begegnet ihm regelmäßig im Kreis Gießen. Die 68-Jährige ist freiberufliche Freitodbegleiterin bei Dignitas Deutschland. 

Kreis Gießen - Krankheit, Leid, Sterben, Tod. Die meisten Menschen scheuen diese Themen. Nicht Inge Menges. Sie hat kürzlich in einem Leserbrief in dieser Zeitung freimütig auf die Grenzen palliativer Versorgung hingewiesen und dabei auch ihre Tätigkeit als freiberufliche Freitodbegleiterin erwähnt. Einem Gespräch über dieses Engagement hat sie spontan zugestimmt. Aber sie will nichts Falsches sagen. »Mit den juristischen Begrifflichkeiten kenne ich mich nicht so gut aus«, hat sie am Telefon erklärt. Deshalb sitzt beim Treffen in ihrem behaglichen Wohnzimmer in einer Kleinstadt bei Gießen Sandra Martino, die Vorsitzende von Dignitas Deutschland, mit am Tisch. Die Organisation unterstützt ihre Mitglieder beim Suizid, sofern diese bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Ganz zentral: Die Entscheidung für die Selbsttötung muss in freier Verantwortung getroffen werden.

Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor gut zwei Jahren ist in Deutschland Hilfe beim Suizid legal. Tötung auf Verlangen dagegen steht nach wie vor unter Strafe. Ärzte dürfen sterbewilligen Menschen todbringende Medikamente zur Verfügung stellen. Allerdings müssen die Patienten sich die Dosis selbst zuführen. Inge Menges führt darüber Protokoll.

Freitodbegleiterin im Kreis Gießen: Sie kümmert sich auch im Angehörige und verständigt Polizei

Im Gegensatz zu dem Arzt, lernt Inge Menges die Menschen erst an deren Todestag kennen. Den Termin hat sie vorher mit Dignitas abgesprochen. Ganz sachlich erzählt sie, wie es dann weitergeht. »Ich rufe vorher an: Hallo, ich bin die Frau Menges. Ich komme übermorgen mit dem Dr. Soundso zu Ihnen.« So in etwa stellt sie sich vor.

Sie berichtet von ganz verschiedenen Reaktionen. Manchmal hört sie ein knappes »Alles klar. Bis dann!« Manchmal folgt ein stundenlanges Gespräch. Ebenso unterschiedlich ist die Situation, die sie vor Ort vorfindet. Manche Sterbewillige scharen die ganze Familie um sich. Andere haben keine Angehörigen mehr. Manche liegen im Bett. Andere wollen in ihrem Garten sterben. Eine Frau, erinnert sich Inge Menges, hatte ihren Fernsehsessel gewählt. Offensichtlich ein Ort, an dem sie sich gut aufgehoben fühlte.

Die Sterbebegleiterin versichert sich mehrmals, ob sie nicht wieder gehen soll und muss alles genau protokollieren. Sie bleibt präsent, wenn der Arzt den Raum verlässt, um die Medikamente vorzubereiten. Sie kümmert sich um die Angehörigen. Und etwa eine halbe Stunde, nachdem der Tod eingetreten ist, ruft sie die Polizei, die bei jedem unnatürlichen Todesfall prüfen muss, ob eine Straftat vorliegt.

Kreis Gießen: Freitodbegleiterin sammelte früh selbst Nahtod-Erfahrung

Den Namen des tödlich wirkenden Präparats will Dignitas-Vorsitzende Martino nicht nennen. »Ein Barbiturat«, sagt sie. Eines, das nicht unter das Betäubungsmittelgesetz falle und sich intravenös zugeführt wird. Das Rädchen am Zugang darf niemand lösen, außer dem Sterbewilligen selbst.

Dass jemand vor diesem Schritt zurückschreckt, hat Inge Menges noch nicht erlebt. Ihre Stimme ist dann meistens das letzte, was die Menschen hören. »Ich wünsche Ihnen eine gute, tolle Reise«, sind die Abschiedsworte, die die Freitodbegleiterin spricht, sobald die letale Dosis in die Vene fließt. »Dann geht es ganz schnell«, sagt sie. Erst fallen die Menschen in den Schlaf. Wenig später tritt der Tod ein.

Den Tod, erzählt Inge Menges, hat sie früh kennengelernt, im Alter von 20 Jahren. Nach Komplikationen bei einer Knie-OP erlitt sie eine Lungenembolie. »Ich war weg«, sagt sie und schildert eine klassische Nahtod-Erfahrung. Gleißendes Licht, ein Gefühl grenzenloser Liebe. »Das klingt jetzt voll kitschig, aber so war es.« Die Ärzte haben sie zurückgeholt in ein pralles Leben. Die Frau mit den roten Locken hatte einen Beruf, der sie ausfüllte. Sie hat zwei Söhne großgezogen. Sie hat ihre kranke Mutter gepflegt. Ihr Interesse an den letzten Dingen hat sie stets begleitet. »Ich wusste, dass ich etwas in diese Richtung machen möchte, wenn die Kinder groß sind.«

Freitodbegleitung im Kreis Gießen: Unterschied zu Sterbebegleitung

Das hat sie dann auch getan. Doch als ehrenamtliche Sterbebegleiterin beim Hospizverein musste sie erleben, dass die palliative Versorgung an Grenzen stoßen kann. Inge Menges erzählt von der schwer kranken Frau, die sie drei Jahre lang jede Woche besucht hat. Knochenkrebs, doch der Tod lässt auf sich warten. Ein mieses Pflegeheim, Kinder, die sich nie blicken lassen. »Ich will sterben«, habe die Frau immer wieder gesagt. »Aber ich konnte ihr nicht helfen.«

Nach dieser Erfahrung hat die Helferin die Sterbebegleitung bleiben lassen. Vor zwei Jahren, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, hat sie schließlich Kontakt zu Dignitas aufgenommen. Den Schritt hat sie nicht bereut.

Sterbebegleitung und Freitodbegleitung sind ihrer Erfahrung nach völlig verschieden. »Als Sterbebegleiterin baust du eine Beziehung auf, manchmal wird daraus eine Freundschaft. Die Menschen erzählen dir viel.« Als Freitodbegleiterin dagegen trifft sie Menschen, die sich lange mit dem Tod auseinandergesetzt und eine Entscheidung getroffen haben. Nun ermöglicht sie ihnen das Sterben. Ihr Resümee: »Bisher waren alle dankbar.«

Suizid in Deutschland: 25 Personen pro Tag

Im Jahr 2020 starben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland insgesamt 9206 Personen durch Suizid - das waren über 25 Personen pro Tag. Rund 75 Prozent der Selbsttötungen wurden von Männern begangen. Ihr durchschnittliche Alter lag zum Zeitpunkt des Suizides bei 58,5 Jahren. Frauen waren im Durchschnitt 59,3 Jahre alt. Die wenigsten Suizide gab es in Nordrhein-Westfalen (7,6 pro 100 000 Einwohner), die höchste Quote hatte Sachsen-Anhalt (15,9 von 100 000 Einwohnern).Gegenüber dem Vorjahr (9041) war die Zahl der Suizide 2020 leicht gestiegen. Insgesamt jedoch ist sie in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, nahmen sich 1980 etwa 50 Personen pro Tag das Leben. pm

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