1. Gießener Allgemeine
  2. Kreis Gießen

Frau Schick hält an

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Stefan Schaal

Kommentare

srs-zeugin1_090422_4c
Am Abend des 9. Juli 2021 rettet eine Grundschullehrerin auf der Landstraße zwischen Mainzlar und Treis vermutlich ein Menschenleben. © Stefan Schaal

In ihrem Alltag bringt sie Kindern Lesen und Schreiben bei, auf der Landstraße zwischen Treis und Mainzlar wird eine 28 Jahre alte Grundschullehrerin Zeugin einer Gewalttat. Als eine mit Messerstichen schwer verletzte Frau aus einem Auto stürzt, entscheidet sie sich, zu helfen und begibt sich in eine gefährliche Sitation. »Ich würde es wieder tun«, sagt sie heute.

Eine Sache bereut sie allerdings.

Es sind Bruchteile einer Sekunde. Ein Wimpernschlag, der über elementare Fragen entscheidet: Wegschauen oder helfen? Weiterfahren oder anhalten? Die Notlage eines anderen Menschen ignorieren oder Zivilcourage zeigen?

»Viele Menschen wären, glaube ich, weitergefahren. Weil man sich denkt: Das sind nicht meine Probleme. Die möchte ich nicht zu meinen machen«, sagt L. Schick. Ihren Vornamen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Das hat Gründe.

Die 28 Jahre alte Grundschullehrerin wird an einem Sommerabend im Juli vergangenen Jahres auf der Landstraße zwischen Treis und Mainzlar Zeugin einer Gewalttat. Auf der Gegenfahrbahn fällt eine Frau aus einem Wagen, das Auto, ein dunkelgrüner BMW, braust davon. Schick hält sofort an. Kurz darauf sitzt die Frau auf ihrem Beifahrersitz, blutend, aus dem Bauch quillt der Darm heraus, sie krümmt sich vor Schmerzen. Ihr Mann habe mit einem Messer auf sie eingestochen, erzählt die Frau. Plötzlich nähert sich in diesem Augenblick ein Auto, es bleibt vor Schicks Wagen stehen, setzt langsam zurück. Die Lehrerin bekommt es mit der Angst zu tun. Ist der Mann zurückgekehrt, der mutmaßlich seine Frau töten wollte? Schick verriegelt die Tür von innen - und spürt in diesem Moment, dass sie sich in Gefahr begeben hat.

In ihrem Alltag bringt Schick Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen bei, an einer Grundschule im Schwalm-Eder-Kreis unterrichtet die Literaturwissenschaftlerin als Vertretungslehrerin vor allem Deutsch, Mathematik, Sachkunde und Kunst. Sie habe sich vor zwei Jahren für den Lehrerberuf entschieden, weil sie gerne Menschen unterstütze, sagt sie. Auch am Abend des 9. Juli 2021 auf der Landstraße zwischen Mainzlar und Staufenberg setzt sie sich helfend ein. Sie rettet vermutlich ein Menschenleben.

»Die Frau hätte überfahren werden können, nachdem sie aus dem Auto gefallen ist«, sagt Schick. »Ihr Mann hätte zurückkehren können. Sie hätte im Straßengraben liegen bleiben können und wäre dort gestorben.« Tatsächlich ist die Frau knapp dem Tod entronnen, wie ein rechtsmedizinisches Gutachten belegt. Die Messerstiche drangen damals unter anderem in die Brusthöhle, verletzten eine Arterie, es kam zu inneren Blutungen im Brustkorb. Wie wichtig ihr Einsatz war, sei ihr erst später klar geworden, sagt Schick. »Als die Frau in der Intensivstation gelegen hat und ich erfahren habe, dass sie über den Berg ist.«

Auf die Frage, warum sie an diesem Tag Zivilcourage gezeigt hat, zögert Schick für einen Moment. Dann sagt sie: »Weil ich so bin.« Wenn zum Beispiel jemand im Supermarkt stürze, dann helfe sie der Person eben auf. Es gehe darum, »dass es anderen auch gut geht.« Sie halte es aber für falsch, damit zu prahlen. Gute Taten kämen im Leben irgendwann zurück, fügt sie hinzu. »Auch wenn es Kleinigkeiten sind.«

Die Lehrerin handelt an dem Sommerabend auf der Landstraße zwischen Treis und Mainzlar auch geistesgegenwärtig. Als sich die blutende, schwer verletzte Frau auf ihrem Beifahrersitz krümmt, wählt Schick die Notrufnummer und versucht, Vertrauen aufzubauen, der Frau Angst zu nehmen. Sie nennt ihren Namen, spricht ruhig auf sie ein. »Dann habe ich gemerkt, dass sie kurz davor war, wegzudämmern.« Sie gibt ihr Wasser, damit sie wach bleibt.

In dem Auto, das sich den beiden Frauen genähert hat, sitzt glücklicherweise nicht der mutmaßliche Täter, sondern ein Mann, der ebenfalls Zivilcourage zeigt und zunächst ein Warndreieck aufstellt. Schick traut sich in dem Moment nicht, das Auto zu verlassen. Sie kümmert sich um die Verletzte, spricht mit ihr. Irgendwann atmet sie einmal tief ein und aus - und bemerkt plötzlich, dass Rettungskräfte eingetroffen sind, ein Hubschrauber landet. Weil beim Retten von Leben jede Sekunde zählt, versuchen die Rettungskräfte, die Beifahrertür Schicks auszuhebeln und so weit wie möglich zu öffnen, um die Verletzte zu transportieren, beschädigen dabei die Tür und den Kotflügel. Der Schaden ist ihr von den Rettungskräften inzwischen erstattet worden.

Die Situation und die schwere Verletzung der Frau haben Schick damals zumindest aus Sicht der Einsatzkräfte derweil so aufgewühlt, dass auch für sie ein Rettungswagen gerufen wird. »Darüber habe ich mich geärgert«, sagt sie. »Das war unnötig. Mir ist doch nichts passiert. Andere haben einen Krankenwagen nötiger.« Allerdings, gesteht sie, sei es damals dann eine gute Idee gewesen, sich mal hinzusetzen. »Ich habe ein Fiepen im Ohr bemerkt, der Gleichgewichtssinn war gestört, das Adrenalin ist von mir abgefallen.«

Vor wenigen Wochen, Mitte März, sitzt Schick in einem Saal des Gießener Landgerichts. Sie sagt als Zeugin aus. Der Mann, der die Frau in ihrem Wagen verletzt haben soll, muss sich wegen versuchten Mords verantworten. Das Erscheinungsbild des Angeklagten habe sie überrascht, erzählt sie. »Ich hätte ihn mir nicht so gepflegt vorgestellt. Wäre ich ihm im Seltersweg begegnet, hätte ich nie gedacht, dass das ein Mörder sein soll.« Man könne Menschen eben nur vor den Kopf schauen - und nicht hinein.

Der Vorfall auf der Landstraße hat sie durchaus länger beschäftigt. Regelmäßig nutzt sie die Straße, um ihre Familie in Gießen und Allendorf/Lumda zu besuchen. »Eine Woche später habe ich eine andere Strecke, einen Umweg genommen, bin durch kleine Örtchen und über einen Trampelpfad gefahren«, erzählt sie. Kurz habe sie Herzrasen bekommen, als vor ihr ein dunkelgrüner BMW fuhr. Seitdem aber fährt sie wieder die alte Strecke über die Landstraße. »Jetzt erst recht«, erklärt sie. »Ich wollte dem Ganzen keine Chance geben, dass mich das mitnimmt.« Sie habe seitdem auch keine Angst mehr verspürt.

Der Notfallärztin hat sie damals ihre Telefonnummer gegeben. Die verletzte Frau könne sie anrufen, wenn sie möchte. Zu einem Kontakt ist es nach dem Vorfall bisher aber nicht gekommen. »Das ist in Ordnung«, sagt Schick. »Für mich ist nur wichtig, dass es ihr gut geht und die drei Kinder sicher sind.«

Sie würde heute genauso handeln wie an jenem Sommerabend im Juli vergangenen Jahres. Nur eines bereue sie: Den Rettungskräften hätte sie es einfacher machen können, die Verletzte zu transportieren, auch ihr Auto wäre dann vermutlich nicht beschädigt worden. Sie sagt: »Ich würde früher aus dem Auto steigen.«

Auch interessant

Kommentare