Festakt im Zeichen der Zeitenwende

Nur 1800 Kilometer von Grünberg entfernt, in der Ukraine, leiden die Menschen unter dem von Russlands Führung entfesselten Krieg. Darf man da feiern? Die Frage zog sich durch mehr als eine Rede, die gestern beim Festakt »800 Jahre Grünberg« gehalten wurde. »Ja, man kann feiern«, meinte Ministerpräsident Bouffier. Nur eben nicht unbeschwert - und mit Demut.
Alle 800 Stunden, so das ambitionierte Ziel der »Jubiläumsmacher«, soll mit einer Veranstaltung an die Erst-erwähnung Grünbergs als Stadt vor 800 Jahren erinnert werden. Von »Kultur am Turm« bis zum 800 Meter langen Picknick - das Programm weckt Vorfreude. Der offizielle Auftakt fand gestern mit dem Festakt in der Gallushalle statt, zu dem Bürgermeister Marcel Schlosser pandemiebedingt »nur« rund 250 geladene Gäste begrüßte.
Durch die dreistündige Veranstaltung führte Marktfrau Andrea Strauch. 2018 hatte sie - so sind nun mal die ungeschriebenen Gesetze des Gallusmarktes - Ministerpräsident Bouffier verwehrt, auf die Bühne zu kommen. »Jetzt dürfen Sie«, bat sie gestern mit einem Schmunzeln den Ehrengast ans Mikrofon.
Ein Jubiläum wie dieses, begann Bouffier, müsse Anlass sein, Tradition und Fortschritt zusammenzubringen. Sich zu fragen: »Wie sind wir geworden, was wir sind?« Ein Grund dafür, dass Grünberg heute so gut dasteht, ist für ihn die hier gelungene, weil in Freiwilligkeit vollzogene Gebietsreform. Ein weiterer das (oft ehrenamtliche) Engagement der Bürger, die der Stadt ihr Bestes suchten, sich mithin um ihre Zukunft kümmerten.
Der CDU-Politiker spann den Faden weiter, da er auf eingangs erwähnte Zeitenwende, den ersten Krieg in Europa im 21. Jahrhundert, einging. In solchen Zeiten müsse ein Jubiläum Anlass für diese eine entscheidende Botschaft sein: »Es ist keine Selbstverständlichkeit, in Frieden, Freiheit und Selbstbestimmtheit leben zu dürfen, und dazu in einem nie gekannten Wohlstand.« Bouffier weiter: »Die letzten gut 75 Jahre waren mit Sicherheit die besten, die diese Stadt je erlebt hat.«
Die habe seit jeher über ein starkes Gemeinwesen verfügt und über ihre Grenzen hinaus gewirkt. So sei etwa die Gründung von Gießens Universität 1607 aus dem (aufgelassenen) Antoniterkloster finanziert worden.
Mit einem Seitenblick auf die Märtfraa als Repräsentantin des Gallusmarktes kam Bouffier selbst auf dessen Bräuche zu sprechen. Will meinen auf die Wurzelbürgerbürsterei, mit der die Grünberger Neubürger in ihre Gemeinschaft aufnehmen. Freilich sei er für hier verlangte Mundartprobe nicht geeignet. Mit einer Ausnahme: Für den Dialog »Einen schönen guten Tag. Wie ist Ihr wertes Befinden?«, wusste Bouffier, brauche es in Grimmich nur zwei Worte: »Ean? - Gout!«
800 Jahre Stadtgeschichte, so hernach Landrätin Anita Schneider, böten einen reichen Fundus an lokaler, regionaler Geschichte und Geschichten. Natürlich sei auch Grünberg von den großen Zeitläuften geprägt worden. Sei es nun die Bombardierung der Stadt 1945, seien es Flucht und Vertreibung oder jetzt der Krieg in der Ukraine.
Schneider würdigte an dieser Stelle die große Hilfsbereitschaft auch der Grünberger, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen gehe. Ein positives Kapitel der Stadtgeschichte, Beweis der Offenheit seiner Bürger, wie sie auch in den Städtepartnerschaften zum Ausdruck komme.
Die Gallusstadt, fuhr sie fort, habe auch in jüngerer Zeit stets Position bezogen. Die Anerkennung als Fairtrade-Town 2011 sei ein Beispiel. Ebenso das Bestreben, sein Potenzial als Fremdenverkehrsziel auszuschöpfen.
Wie ihr Vorredner maß sie dem Engagement der Bürger erheblichen Anteil an der Fortentwicklung der Stadt zu; wesentlich sei aber nicht minder die Kreativität der örtlichen Unternehmen.
In einer Andacht hatten die Grünberger Pfarrer Ciprius Tiba (katholisch), Alexander Röhr (evangelisch) und Björn Zymna (Stadtmission) auf den Beitrag der Kirchen zum gesellschaftlichen Leben aufmerksam gemacht. Ebenso die Kirchen hätten die Stadtgeschichte geprägt, seien hier eng mit der weltlichen Gemeinde verwoben. So möge es auch in Zukunft sein,
Der Festakt wurde umrahmt von Beiträgen der Musik und Kunstschule e.V., in Person von Vanessa Maria Ligato, Elena Frank, Silke Risse, dem Klarinetten-Ensemble sowie dem Duo Martin Philippi und Martina Philippi-Chagrani.
Für Schmunzeln sorgte der Beitrag der Gallusmarkt-Kommission: Als sich der Bühnennebel lichtete, fiel der Blick auf ein aus 36 Metern Stahlrohr gefertigtes 800-Jahre-Logo. »Bürstmeister« Gerd Lippert: »Unsere Soko hat dafür 100 Stunden kreative Arbeit und 30 Tage Muskelkater investiert.« Jetzt aber stelle sich die Frage: »Ist das Kunst oder kann das weg?« (»das ist Kunst«, Bouffier).
Nach Lippert steht die Form der Acht für das Auf und Ab der Stadtgeschichte, stehen die herzförmigen Nullen für die 14 Stadtteile. »Also auch für die Kernstadt - wobei Letztere natürlich der schönste ist...« Ein weiteres Herz sei Symbol für alle Menschen, »die für Freiheit und Frieden kämpfen.« Womit auch Lippert das Leid der Ukrainer aufgriff (weiterer Bericht folgt).

