Ferienjob an der Inselorgel

Arbeiten, wo andere Urlaub machen, klingt nach einem Traumjob. Für den Laubacher Hermann Wilhelmi ist es das auch. Jedes Jahr wirkt er als Kurkantor auf Langeoog. Zum Baden in der Nordsee bleibt ihm dabei allerdings nur wenig Zeit.
Einen Arbeitstag damit zu beginnen, dass man erst einmal an den Strand geht, sich die salzige Luft um die Nase wehen lässt und in den Wellen badet - für den Laubacher Hermann Wilhelmi ist dies im Sommer Alltag. Natürlich nicht im Grünen Meer vor der heimischen Haustür in Laubach, sondern in der Nordsee. Wilhelmi ist seit Jahren Kurkantor auf der Insel Langeoog. Es war viel Zufall mit im Spiel, dass er zu diesem »Ferienjob« kam. Seine Frau war als Kind häufig auf Spiekeroog, da ihr Vater dort im Sommer als Kurpastor arbeitete. »Daher wollte sie unbedingt auch mit unseren Kindern auf Nordseeinseln Urlaub machen«, sagt Wilhelmi. So wurden die Insel der Reihe nach erkundet.
2005 urlaubte die Familie auf Langeoog. Auf der Insel probte damals ein Gästechor. Wilhelmi, der hauptberuflich als Oberstudienrat an der Liebigschule in Gießen arbeitet, ließ sich dieses Angebot nicht entgehen. Nach einer Probe setzte er sich dann ans Klavier. »Ich muss Chopin gespielt haben.« Ortspfarrer Thorsten Boot hörte die Musik. Sofort bemerkte er, dass da ein Profi sitzen muss. Kein Wunder, gewann Wilhelmi einige Jahre später den Preis der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau für den besten nebenamt- lichen Organisten.
Da Langeoog damals keinen eigenen Kirchenmusiker hatte, fragte Boot ihn, ob er sich vorstellen könne, im nächsten Sommer als Kurkantor für Musik zu sorgen. Wilhelmi sagte gerne Ja. »Im Urlaub möchte ich dort sein, wo ich Klavier und Orgel spielen kann.«
Er kam Jahr um Jahr wieder, immer in den hessischen Sommerferien. Auch als die Kirchengemeinde wieder eine eigene Kantorin hatte, blieb das Arrangement bestehen. »Sie machte in den Schulferien Urlaub mit ihren Kindern und brauchte dann eine Vertretung«, sagt Wilhelmi.
Wenn Wilhelmi im Sommer auf Langeoog weilt, bekommt er eine Unterkunft gestellt. Am Strand verweilen kann der 59-Jährige in der Regel nur kurz, seine Arbeitstage sind lang. Sonntags spielt er die Orgel bei zwei Gottesdiensten, dienstags ein kleines Konzert. Unter der Woche begleitet er ein bis zwei Andachten musikalisch, »bei Bedarf Hochzeiten, Beerdigungen, gelegentlich ein großes Sonntagabendkonzert«.
Eine seiner Aufgaben ist eine echte Wundertüte: der Spontanchor. Urlauber können je nach Lust und Laune mitmachen. Samstags wird geübt, am Sonntag bereits im Gottesdienst oder bei einem Fest - etwa dem Tag der Seenotretter - vor Publikum gesungen. »Der Chor tritt nach nur einer Probe auf, es ist auch nicht klar, wie viele Sänger mit welchen Fähigkeiten zur Probe kommen«, sagt Wilhelmi. »Einmal saß im Bass ein Orgelprofessor, andere treffen kaum die Töne. Vor ein paar Wochen waren es nur zwei Frauen und drei Männer.« Da kommt selbst der erfahrene Chorleiter, der unter anderem den Laubacher Blueschor, den Liederkranz Eberstadt und weitere heimische Ensembles leitet, ins Schwitzen: »Das ist nichts für schwache Nerven.«
Und dennoch gelingt das Experiment stets aufs Neue, in 90 Minuten einen Auftritt mit acht Liedern vorzubereiten. Wilhelmi hat daran eine besondere Freude: »Ich leite gerne Chöre, bei denen alle mitsingen können.«
Dieser Sommer stand bei Wilhelmi generell unter dem Stichwort »spontan«. Als er am 22. Juli auf die Insel reiste, ging es »von der Fähre in die Inselbahn und an die Orgel«. Beim »Klangwellenspielkonzert« war der Musiker ausgefallen, die Veranstaltung aber bereits groß angekündigt. Wilhelmi improvisierte.
Wenige Tage später sollte der Bremer Posaunenchor als Abschluss eines Projekts konzertieren. Große Teile des Ensembles wurden jedoch von Corona lahmgelegt. Wieder sprang der Laubacher in die Bresche. Nachdem der dezimierte Posaunenchor 20 Minuten gespielt hatte, rundete er mit 40 Minuten Orgelspiel den Abend ab. Bei den Zuhörern kam die Mischung gut an.
Ein Höhepunkt 2022 war die Premiere eines Gospelchorprojekts mit den Insulanern. »Gleich die erste Chorprobe machte dem Chor solchen Spaß, dass sie mich gerne hier behalten hätten«, sagt er und lacht. Dann würde er allerdings die Arbeit mit seinen heimischen Chören vermissen. Mittlerweile ist er aus seinem Aktivurlaub zurück - und freut sich auf die Wieder- holung im nächsten Jahr.
