Felle bis nach Saudi-Arabien

Felle wurden bei Müllers in Reiskirchen in großem Stil konserviert, bereits extern gegerbte zu Autositz- und Dekorationsfellen verarbeitet. Doch das ist inzwischen 16 Jahre her. Lager und Betriebshof werden seitdem praktisch nicht mehr genutzt.
Felle abholen, konservieren, lagern und schließlich verkaufen, wenn genug zusammengekommen waren - das wurde bei Fell-Müller in Reiskirchen über 50 Jahre gewerbsmäßig betrieben. Das zweite Standbein war das Nähen von Autositz- und Dekorationsfellen, die direkt an der Waldstraße verkauft, aber auch verschickt und gar exportiert wurden. »In den 70er- und 80er Jahren wurden sie bis nach Saudi-Arabien geliefert«, erinnert sich Günter Müller. Das alles ist inzwischen 16 Jahre her, Lager und Betriebshof werden seitdem so gut wie nicht mehr genutzt.
Vier Männer im Lager und drei Frauen in der Näherei sorgten für den Umsatz. Das war mit harter körperlicher Arbeit verbunden. Eine einzelne Rinderhaut wiegt immerhin bis zu 40 Kilogramm. Da kommen auf einer Palette schnell mal 1,2 bis 1,5 Tonnen zusammen, die bewegt werden wollen.
Ganz wichtig: Müllers hatten keine Gerberei mit all den gefährlichen Stoffen. »Wir haben nur mit Salz gearbeitet«, sagt Müller. In den Schlachthöfen holten Müller und seine Mitarbeiter Rohfelle ab, die schnellstmöglich auf dem Hof in Reiskirchen mit Salz behandelt wurden - um sie haltbar zu machen und unangenehme Gerüche zu vermeiden. Pro Jahr wurden rund 150 Tonnen Salz dafür verbraucht. Im Winter war der Zeitdruck etwas geringer, aber »im Sommer wars’s gefährlich«, schildert Müller.
Das Veterinäramt habe in dem zertifizierten Betrieb regelmäßig vorbeigeschaut. Auch die Wasserproben seien stets ohne Beanstandungen gewesen,
Neben Schlachthöfen waren Abdeckereien die wichtigste Bezugsquelle. Dort wurden die Felle schon vor dem Transport mit Salz behandelt. Der Großteil der schließlich gelagerten Felle wurde über Agenten verkauft, manchmal aber auch direkt an Lederfabriken.
Gegerbt wurde zwar nicht auf dem Gelände, aber extern gegerbte Felle wurden im Vorderhausanbau verarbeitet. Dabei kamen Kürschnermaschinen zum Einsatz. Neben Ehefrau Roswita waren dort auch Mutter Leopoldine und die Schwägerin tätig. Günter Müller fertigte die Nähschablonen. Allein 2000 Schaffelle verwandelten sich so pro Jahr vornehmlich zu Autositzfellen. Und die bekamen die Kunden auf Wunsch sogar in ihre Wagen passgenau eingebaut.
Die Familie von Günter Müller stammt aus dem Sudetenland. Vater Franz Müller, ein gelernter Metzger und Bäcker, fing direkt nach Vertreibung und Ankunft in Reiskirchen mit der Verarbeitung von Fellen an. Auch der 15 Jahre ältere Bruder war im Betrieb tätig. Die Firma entwickelte sich stetig, Stück für Stück wurde auf dem Gelände an der Waldstraße angebaut. Immer mehr gefragt waren im Betrieb Flexibilität und Mobilität. Einen ersten richtigen Urlaub konnten sich Roswita und Günter Müller erst gönnen, als die vier Kinder größer waren.
Der allmählich einsetzende Strukturwandel machte das Geschäft seit Mitte der 90er Jahre schwieriger. Immer mehr Metzgereien verschwanden, schon gar diejenigen mit eigener Schlachtung. Aber auch die Schlachthöfe in Gießen, Marburg und Wetzlar gibt es schon längst nicht mehr. Großbetriebe übernahmen allmählich das Geschäft. Familienbetriebe hatten keine Chance mehr.
Außerdem gab es immer mehr behördliche Auflagen, die das Geschäft der kleineren Betriebe erschwerten. Obwohl er in den letzten Jahren von seinem Neffen Jörg Döring stark unterstützt wurde, entschied sich Günter Müller 2005, das Geschäft aufzugeben - als er die Lenkerlaubnis für Lkw hätte verlängern müssen. »Es war höchste Eisenbahn«, sagt er rückblickend, mit der Gewissheit, richtig gehandelt zu haben.
Die ehemaligen Geschäftsräume sind inzwischen zu Wohnzwecken vermietet, im Betriebshof zur Bundesstraße hin hat sich Unkraut breitgemacht, und die Lagerräume sind praktisch nicht mehr genutzt. Lediglich ein Motivwagen des Reiskirchener Karnevalvereins RKV zeugt von Müllers ehemaligem Engagement als Mitglied des Elferrats.

