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Tödliche Bluttat in Daubringen: Netz aus Affären, Drohungen und Gewalt enthüllt

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Von: Jonas Wissner

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Die beschaulich wirkende Straße, in der der Tatort liegt, am Tag nach dem tödlichen Messerangriff.
Die beschaulich wirkende Straße, in der der Tatort liegt, am Tag nach dem tödlichen Messerangriff. © Patrick Dehnhardt/Archiv

Im Prozess um die Bluttat in Daubringen ist am Donnerstag das komplizierte Verhältnis mehrerer Beteiligter zur Sprache gekommen. Der Angeklagte überraschte mit seiner Aussage.

Gießen/ Staufenberg Für einen Moment klingt es nach einem Geständnis. Staatsanwalt Thomas Hauburger fragt den Angeklagten, wer für die tödlichen Verletzungen verantwortlich war, die im Februar in Daubringen einen 70-Jährigen das Leben kosteten. »Leider Gottes ich«, antwortet der 57-jährige gelernte Kinderkrankenpfleger. »Es war ja meine Hand, die das Messer geführt hat. Wenn es nicht so gewesen wäre, würde ich nicht hier sitzen.« Soeben hatte er geschildert, wie er mit seiner Schwester am Haus seiner Ex-Freundin ankam, um ihr die gemeinsame Tochter zu übergeben. »Da habe ich einige Lücken«, er könne sich nur bruchstückhaft erinnern, sagt er dann. Dass er wenig später ein Messer gezogen, das Gesicht seines Gegenübers bis zur Unkenntlichkeit entstellt, den Hals quasi durchschnitten haben soll - daran habe er keine Erinnerung. »So eine Aussage habe ich hier auch noch nicht gehört«, gibt sich der Staatsanwalt perplex.

Totschlag im Kreis Gießen: „Es ist eine Katastrophe - jetzt, so im Nachhinein“

Wie konnte ein Streit auf offener Straße in einem solchen Gewaltexzess münden? Nachdem Hauburger zum Auftakt die auf Totschlag und gefährliche Körperverletzung lautende Anklage verlesen hatte, ging es am Donnnerstag um die Perspektiven verschiedener Beteiligter - und um ihre teils komplizierten Beziehungen zueinander, um zerbrochene Freundschaften, Affären, Drohungen und häusliche Gewalt.

Zu Beginn sagte der Angeklagte aus. In ruhigem Ton berichtete er, wie er die Tochter aus der Kita geholt, den Nachmittag mit ihr verbracht habe. Immer dienstags, donnerstags und an jedem zweiten Wochenende durfte er sie und ihren Bruder sehen. Als er die Tochter gegen 19 Uhr bei seiner Ex-Freundin unweit seines Hauses abgeben wollte, hätten dort weitere Personen gewartet. Der 70-Jährige sei schließlich auf ihn zugestürmt, habe ihm ins Gesicht geboxt. So haben es auch Zeugen in Erinnerung, doch sie berichten von einem Gerangel zwischen den Männern.

Die Stiche haben sie offenbar nicht direkt erkannt, das Ausmaß der Verletzungen teils erst danach bemerkt. Der 70-Jährige schleppte sich noch über die Straße, dann kollabierte er. »Es ist eine Katastrophe - jetzt, so im Nachhinein«, sagte der Angeklagte. In seinem Beruf habe er doch immer Menschen geholfen.

Bluttat im Kreis Gießen: 15-Jähriger kann nicht mehr in die Schule gehen

Bis 2018 waren der Angeklagte und die Mutter seiner beiden jüngsten Kinder ein Paar, dann folgte die Trennung. Sie begann eine, wie es am Donnerstag mehrfach hieß, »On-Off-Beziehung« mit jenem Mann, den der Angeklagte am Tatabend ebenfalls verletzt haben soll. Zuvor, so der 57-Jährige, sei dieser sein Freund gewesen, man habe sich fast täglich getroffen.

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Ein 57-Jähriger muss sich vor dem Landgericht wegen Totschlags verantworten. Er verweist auf Erinnerungslücken. © Jonas Wissner

Nach der Trennung soll es immer wieder zu Streit gekommen sein, vor allem um die beiden gemeinsamen Kinder. Das Jugendamt wurde eingeschaltet, es gab Beschuldigungen, wüste Beschimpfungen - und immer wieder Zwist bei der Übergabe der Kinder. In dem schwelenden Konflikt spielten auch der neue Freund der Frau und der 70-Jährige eine Rolle, beide sollen engen Kontakt gehabt haben. Laut der Frau haben diese beiden Männer einerseits und ihr Ex-Freund andererseits sich mehrfach gegenseitig bedroht, auch von Nachstellungen war die Rede. Sie habe aber gemahnt, die jeweils andere Partei in Ruhe zu lassen, und gerade den 70-Jährigen aus dem Konflikt heraushalten wollen. Der Angeklagte sagte, er habe sich gar vor den beiden gefürchtet - aber nicht etwa am Tatabend ein Messer mitgenommen, um sich notfalls zu schützen. Laut dem »On-Off«-Freund soll der Angeklagte einmal versucht haben, ihn und den 70-Jährigen zu überfahren.

Schwer zu schaffen macht die Bluttat offenbar dem 15-jährigen Sohn der Frau aus einer vorherigen Beziehung. Er lebte zeitweise mit seiner Mutter beim Angeklagten und war am Tatabend vor Ort. An etliche Details könne er sich nicht mehr erinnern, sagte er. »Ich gehe mittlerweile nicht mehr in die Schule, habe Vertrauensprobleme bei jedem, den ich nicht länger als fünf Jahre kenne.«

Bluttat im Kreis Gießen: Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen?

Sein Fazit: »Es war immer sehr aggressiv bei uns zu Hause.« Der Angeklagte habe seine kleinen Geschwister häufig auf den Hintern geschlagen. Ihm zufolge hat der 57-Jährige oft bis zu einem halben Kasten Bier pro Tag geleert, sich »dann immer aufgespielt«. Auch an jenem Abend wirkte der Mann laut dem 15-Jährigen und der Ex-Freundin stark alkoholisiert. Er selbst räumte auf Nachfrage nur tröpfchenweise ein, vorher mehrere Flaschen Bier und Gläser Wein getrunken zu haben. »Er hat mich wie das Letzte behandelt«, sagte die Ex-Freundin über den Angeklagten. Zunächst war sie an dem Abend mit ihrem Ex in Streit geraten.

Der zweite Verhandlungstag brachte einiges Licht ins Dunkel des verhängnisvollen Abends, doch es bleiben Fragen. Etwa die, warum der 70-Jährige überhaupt vor Ort war. Eigentlich habe der Getötete eine Parlamentssitzung in Staufenberg besuchen wollen, sagte der neue Freund. Auch die Frage, ob die beiden Männer als Beistand von der Frau hinzugezogen wurden oder zufällig kamen, scheint nicht abschließend geklärt. Nicht zuletzt: Was genau hat den 70-Jährigen bewogen, auf den Angeklagten loszustürmen?

Verteidigerin Dagmar Nautscher will abschließend von der Frau wissen, ob sie bei sich eine Mitverantwortung für die Eskalation sieht. In diese Richtung hatte sie sich bei der Polizei geäußert. Ihre Reaktion vor Gericht: »Trotzdem hatte er kein Recht, jemanden umzubringen.«

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