»Es geht für viele an die Existenz«

Es wird aktuell viel über die Situation von Menschen diskutiert, die schon jetzt in prekären Verhältnissen leben oder soziale Schwierigkeiten haben. Die Mitarbeiter in den Caritas-Beratungsstellen sind ganz nah dran, sie hören täglich, wie schwierig sich der Alltag gestaltet. Beratungsstellenleiter Wolfgang Haasler gibt einen Einblick. Er sagt: »Die Spartipps der Politiker sind realitätsfern.
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Herr Haasler, oft kommen in einer sozialen Schieflage viele Probleme zusammen. Womit werden die Kollegen derzeit am häufigsten konfrontiert?
Die Lebenslagen der Klientinnen und Klienten waren schon immer schwierig, aber die derzeitige Entwicklung mit Preissteigerung von Lebensmitteln, Strom/Gas und Miete geht für viele an die Existenz. In den Sprechstunden erfahren wir, dass immer mehr Menschen ganz eng kalkulieren müssen und gerade beim Essen einschneidende Abstriche machen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ja, typisch ist folgendes Zitat: »Ich esse jetzt nur noch zwei- bis dreimal in der Woche richtige Mahlzeiten.« Jeder Euro wird zweimal umgedreht und die Jagd nach den günstigsten Angeboten ist extrem gestiegen.
Was berichten die Kollegen aus der Schuldnerberatung?
In der Schuldnerberatung steigt die Zahl derjenigen, die in kleinerem Rahmen selbstständig waren. Die Reserven sind aufgebraucht und es bleibt häufig nur die Aufgabe, verbunden mit finanziellen Forderungen, von denen die Betroffenen nicht wissen, wie sie sie jemals begleichen sollen.
Wie sehen Menschen, die ohnehin ein geringes Budget haben, dem Winter entgegen?
Wir rechnen im Winter mit einem außergewöhnlichen Zulauf von überschuldeten Personen, die durch die Steigerung der Energiekosten in eine finanzielle Schieflage geraten und in der Folge andere finanzielle Verbindlichkeiten, zum Beispiel Telefon, Handy, Bestellungen und Kreditraten nicht bedienen können.
Wirken die derzeitigen Spartipps für Ihre Klientel nicht zynisch? Weniger essen gehen, nicht mehr alle Zimmer heizen, auf Sonderangebote achten? Ist das nicht für die Menschen, die zu Ihnen kommen, ohnehin Realität?
Ja, das ist so. Die Aufforderungen und »Tipps« von Politikern und Behörden machen deutlich, wie realitätsfern deren Wahrnehmung ist! Menschen, die sowieso schon in prekären Verhältnissen leben und ständig rechnen müssen, mit solchen Ratschlägen zu begegnen, ist fast schon grotesk.
In der Gastronomie und im Handel fehlen Mitarbeiter. Ist das für einige Ihrer Klienten auch eine Chance? Zum Beispiel für die, die lange Zeit raus sind aus dem Job oder keine abgeschlossene Ausbildung haben?
Das Problem bei den meisten Langzeitarbeitslosen ist, dass sie aus gesundheitlicher Sicht nicht in der Lage sind, solche Tätigkeiten auszuüben. Die Mehrzahl hat psychische Probleme und ist im Grunde nicht belastbar, beziehungsweise diese Menschen können eigentlich nur Tätigkeiten ausüben, bei denen sie in irgendeiner Form betreut und begleitet werden. Wir stellen uns oft die Frage, warum diese Personen mit aller Gewalt im ALG-II-Bezug bleiben und mit Maßnahmen konfrontiert werden, die sie, was die Integration in den Arbeitsmarkt betrifft, nicht weiterbringen.
Was wäre denn aus Ihrer Sicht sinnvoller?
Besser wäre es, entweder begleitete Arbeitsplätze zu schaffen oder aber zu akzeptieren, dass es eben Menschen gibt, die der Arbeitswelt nicht gewachsen sind und gegebenenfalls von Sozialleistungen leben müssen.
Psychische Störungen und Erkrankungen haben zugenommen. Wir wirkt sich das aus?
Das stimmt, psychische Störungen und Erkrankungen gibt es tatsächlich immer häufiger. Das ist eine erschreckende Entwicklung. Unserer Wahrnehmung nach liegt es unter anderem daran, dass immer mehr Menschen, egal ob jung oder alt, den Anforderungen des Alltags nicht mehr gewachsen sind. Sein Leben zu gestalten und zu organisieren, wird immer aufwendiger und schwieriger.
In welcher Hinsicht?
Ein kleines Beispiel ist die Digitalisierung. Immer mehr Ämter und Behörden haben mittlerweile auf »online« umgestellt und erwarten nun, dass die Menschen diese Form der Kommunikation beherrschen. Das ist aber nicht so. Auch die Überfrachtung an Informationen über die Medien überfordert viele Menschen zunehmend. Wir erfahren eben jetzt doch, wann und wie »in China ein Sack Reis umfällt«.
Gibt es mehr Klienten oder gar eine Warteliste?
Im betreuten Wohnen für Menschen mit psychischer Erkrankung existiert eine lange Warteliste, nicht nur im Caritasverband, sondern auch bei anderen Trägern. Das führt dazu, dass immer mehr Personen dieser Klientel in stationären Einrichtungen bleiben müssen.
Auch für den Caritasverband ist es schwieriger geworden, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Was bedeutet das für die Angebote der Beratungsstellen?
Zum Glück können wir bis jetzt die Angebote mit Fachkräften besetzt halten. Wir merken aber, sobald eine Stelle vakant wird, dass es immer schwieriger wird, qualifizierte Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen zu finden. Der Fachkräftemangel nimmt inzwischen nicht nur in der Pflege und dem Jugendhilfebereich deutlich zu, sondern auch im sogenannten offenen Bereich, bei Beratungsstellen und Sozialarbeit an Schulen.
Sie haben die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre miterlebt. Was sind die aus Ihrer Sicht größten Veränderungen, die es in dieser Zeit gegeben hat?
Für mich als Leitung haben das Tempo und das Arbeitsvolumen enorm zugenommen. In immer kürzerer Zeit sollen Anträge für Projekte und Maßnahmen gestellt werden, die in ihrer Aufmachung äußerst umfangreich sind. Die meisten Mittelgeber erwarten eine Unmenge an Papieren, zum Beispiel Statistiken, Zwischenberichte, Quartalsberichte. Zeit für die Weiterentwicklung von Konzepten oder für Mitarbeitergespräche bleibt da kaum noch.
Was bedeutet das im Alltag?
Es herrscht in vielen Momenten eine auffällige Unruhe und Dynamik, die alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen immens fordert. Ich bin dankbar dafür, dass in meinen Fachbereichen engagierte und verantwortungsbewusste Kollegen und Kolleginnen tätig sind, die ihren Aufgaben gewachsen sind.
