Erinnern an Eugène Lebrun

Eugène Lebrun kletterte während der Arbeit in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Krofdorf auf den Heuboden. Der Mann aus der Normandie, als Zwangsarbeiter nach Mittelhessen verschleppt, stürzte in die Tiefe. 1943 war das. Nun, bald 80 Jahre später, wird sein Schicksal aufgearbeitet.
Menschen aus Polen, aus der Ukraine, aus Russland, aber auch aus Frankreich oder Italien mussten im Dritten Reich Frondienst leisten. Teils unter erbärmlichen Umständen schufteten Zwangsarbeiter in Fabriken, arbeiteten in der Landwirtschaft. Etliche von ihnen überlebten dies nicht. Das passierte nicht irgendwo, sondern auch hier - mitten unter uns. Wo, das zeigt in wenigen Tagen beispielhaft ein kommentierter historischer Dorfrundgang in Krofdorf-Gleiberg auf den Spuren von Zwangsarbeitern. Die Wettenberger »Deutschfranzosen« laden dazu ein.
Seit zwei Jahren recherchiert der Verein die Geschichte des 1943 in Krofdorf tödlich verunglückten Kriegsgefangenen Eugène Lebrun aus Saint-Michel-de-Montjoie in der Normandie. Er war bei Arbeiten auf einem Bauernhof in der Krofdorfer Fohnbachstraße vom Heuboden einer Scheune gestürzt und hatte sich tödliche Verletzungen zugezogen.
Idee und Ziel der heutigen Aufarbeitung der Ereignisse aus den 1940er Jahren: Für Lebrun und drei weitere, nicht lebend in ihre Heimat zurückgekehrte Zwangsarbeiter im Dorf einen Ort der Erinnerung zu schaffen. An einem Wochenende im April 2023 wollen Bürgermeisterin Jocelyne Ozenne und rund 25 Angehörige der Familie Lebrun nach Wettenberg kommen, um zu sehen, wo der Ahn gelebt und gelitten hat und wo er zu Tode gekommen ist. Sie wollen an der geplanten Gedenkveranstaltung sowie der Einweihung der Gedenkstätte teilnehmen.
Norbert Schmidt, langjähriger Vorsitzender des Partnerschaftsvereins, eben der Deutsch-Französischen Gesellschaft, hat erst kürzlich wieder Post erhalten von Audrey Cineux. Sie ist eine Lebrun-Enkelin und zugleich Erste Beigeordnete in Saint-Michel, einem Dorf, das bis heute keine 350 Einwohner zählt. Sie bestätigte in dem Brief den 22./23. April als Besuchstermin in Krofdorf-Gleiberg. Und sie unterstreicht, so Schmidt, »das hohe Interesse der Familie an dem Besuch bei uns«. Beigefügt hat sie die Kopie eines Dokuments aus dem Nachlass des Großvaters: Dessen Führerschein; ausgestellt im Oktober 1923 in Wiesbaden (!), fünf Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Lebrun leistete dort seinerzeit seinen Militärdienst ab. Ein Foto aus dem gleichen Jahr, aufgenommen vermutlich zwischen April und November 1923, zeigt Eugène Lebrun 21-jährig als Soldat. Er gehörte dem 28. Feldartillerie-Regiment an, ersichtlich durch die 28 am Uniformkragen.
Zu Tode gestürzt
Als Eugène Lebrun, ein gelernter Landwirt, dann weniger als zwei Jahrzehnte später in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland verschleppt wird, da landet er in Krofdorf. Er arbeitet, so hat es Dieter Bender recherchiert, wohl bei mehreren Landwirten - bis zu seinem tödlichen Sturz. Die Diagnose: Schädelbruch. Der junge Mann stirbt noch am gleiche Tag in einem Gießener Krankenhaus.
Bender hat sich in den vergangenen Jahren um das Aufarbeiten der Arbeitergeschichte in den Wettenberg-Dörfern und darüber hinaus in Teilen des Altkreises Wetzlar verdient gemacht. Zudem im besonderen um die Schicksale der Zwangsarbeiter in der Region. Lebrun wurde 1943 auf dem Neuen Friedhof in Gießen bestattet. Nach dem Krieg wurde er wie 22 andere französische Tote nach Frankreich überführt und in der Heimat beigesetzt. In Krofdorf erinnert nichts mehr an den französischen Landwirt. Ebenso wenig an die anderen Zwangsarbeiter, die dort bei Bauern oder in Unternehmen schufteten. Das soll sich nun ändern.
Seit einigen Monaten befassen sich die kommunalpolitischen Gremien in Wettenberg mit der Frage, wie angemessen mit dem Gedenken an Lebrun und weitere Zwangsarbeiter umgegangen werden soll.
»Einen Stein für die Plakette ›Gegen das Vergessen‹ haben wir auch schon«, berichtet Norbert Schmidt. Einen »Bleu de Vire«, einen Granit aus dem Steinbruch im Heimatort von Eugène Lebrun.
Zu klären ist in den kommenden Wochen, wo dieser Gedenkstein aufgestellt wird. Als mögliche Standorte hat der gemeindliche Kulturausschuss im Frühsommer bereits den örtlichen Friedhof oder den Sorguesplatz vor dem Rathaus andiskutiert. Auch das Werk von Schunk wäre ein möglicher Ort, hieß es im Frühling. Denn Schunk ist der Nachfolger des Unternehmens Dönges im Krofdorfer Norden, einem Hersteller von Kohlebürsten und Bürstenhaltern.
Dort waren ehedem etliche Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt. Die heutige Unternehmensleitung hat sich, so konnte Dieter Bender schon im Mai berichten, offen gezeigt, dieses dunkle Kapitel der Firmengeschichte aufzuarbeiten.