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Entschleunigte Lebensart

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Von: Stefan Schaal

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Eines der markantesten Automodelle feiert im kommenden Jahr runden Geburtstag: Die Ente wird 75. Wenn Liebhaber und Besitzer eines Citroën 2CV aus ganz Deutschland ihren Wagen reparieren oder restaurieren lassen oder eine Ente mieten oder kaufen wollen, suchen sie in vielen Fällen eine kleine Werkstatt in Langgöns auf: »Entenfrisch«.

Kürzlich hatte Olaf Schurig einen Unfall. Dem Langgönser ist ein Auto hinten in einen Kotflügel seiner Ente gefahren. Der Fahrer stieg aus und machte Schurig ein Angebot: »Komm, ich gebe dir 50 Euro für den Schaden.«

Der 56 Jahre alte Schurig sitzt an einem Tisch in seiner Werkstatt »Entenfrisch« in der Schillerstraße in Lang-Göns. Allein der Anblick der kleinen Halle ist für Liebhaber des Citroën 2CV ein Erlebnis. Regale voller Ersatzteile und Schrauben. Vorne steht eine gelbe Ente mit geöffneter Motorhaube. Werkzeug scheppert, hinten arbeitet der Gründer der Werkstatt, Christoph Frisch. Auch eine mit zwei Motoren ausgestattete alte »Sahara-Ente« steht hier, nach Schätzungen gibt es von diesem Modell weltweit nur noch 300 Exemplare. »Die haben wir in Einzelteilen in Kisten bekommen«, erzählt Schurig. »Sie war ein Wrack. Christoph baut sie von Grund auf wieder auf.«

Schurig kommt nochmal auf den Unfall zu sprechen. Die 50 Euro habe er ausgeschlagen, erzählt er. »Der Kotflügel allein kostet 90 Euro, die Lackierung 100 Euro.«

Es ist gar nicht so lange her, da waren Enten bisweilen tatsächlich nicht viel mehr wert als 50 Euro. Doch die Wertschätzung des Automodells als Oldtimer ist in den vergangenen drei Jahrzehnten enorm gestiegen. Schurig verkauft in seiner Werkstatt auch Enten. Die Preise beginnen bei 18 500 Euro. »Da ist aber auch jede Schraube aufbereitet.«

Schurig ist urprünglich Rheinländer, er stammt aus Viersen nahe der Grenze zu den Niederlanden. Die Liebe zur Ente hat ihn vor gut vier Jahren nach Langgöns geführt, als er die Werkstatt Frischs als Nachfolger übernommen hat. Frisch, der das Geschäft mit den Enten im Juli 1982 gegründet hatte, und Schurig kamen bei einem internationalen Treffen von Fans des Automodells 2017 ins Gespräch. Frisch erzählte damals, dass er über seinen Ruhestand nachdachte, Schurig äußerte Interesse an der Werkstatt - und werkelte dort neun Monate später als Geschäftsführer.

Wenn Besitzer eines Citroën 2CV aus ganz Deutschland ihren Wagen reparieren oder restaurieren lassen oder eine Ente mieten oder kaufen wollen, suchen sie in vielen Fällen die kleine Werkstatt in Langgöns auf. Und immer wieder ist »Entenfrisch« Thema in Fernsehbeiträgen. Auch der Sänger und Schauspieler Oli P. war daher vor einiger Zeit zu Gast in Lang-Göns. Für die inzwischen wieder eingestampfte ARD-Sendung »Hallo Schatz« ließ er eine alte klapprige Ente mit einem Elektromotor ausstatten.

Das Interesse von Fernsehsendern und Prominenten an der Werkstatt im Kreis Gießen hat viel mir der Faszination zu tun, die das Automodell ausstrahlt. Schurig führt die Faszination auf Nostalgie und die markante, unverwechselbare, von Rundungen geprägte Form des Automodells zurück. Doch hinter der großen Zahl an Fans steckt zweifellos noch mehr: Einfachheit, jeglicher Protz ist dem Auto fern. »29 PS, das war’s. 120 Stundenkilometer, dann ist Ende«, fügt Schurig hinzu. Es gebe ein Modell der Ente, auf dem die Beschleunigung von 0 auf 100 in 56,4 Sekunden auf einer Plakette vermerkt sei. »Die Ente ist ein Auto zum Runterkommen.«

Auch die meisten Kunden seien eher gelassene Menschen. »Die stellen zum Teil ihre defekte Ente vor unserer Tür ab, werfen den Schlüssel in unseren Briefkasten und sagen: ›Wenn du Zeit hast.‹«

Schurig erzählt von Anekdoten, um die Faszination des Oldtimers und auch seiner Werkstatt weiter zu beschreiben. »Da besucht uns zum Beispiel einer mit einer Ente und erklärt, dass an seinem Auto irgendetwas scheppert«, berichtet er. Dann werde eben gesucht. »Der Kunde bekommt das mit, und aus der Suche wird eine spannende Aktion.« In moderneren Werkstätten, bei neueren Autos werde ein Diagnosegerät an das Auto gesteckt. »Das zeigt dann an: Pumpe vorne links. Danach wird das alte Teil aus- und das neue Teil eingebaut.« In einer Zeit, in der in Geschäften zunehmend das Digitale einziehe, »alles durchgestylt ist und nach Plan abläuft«, biete seine Werkstatt eine Rückbesinnung zum reinen Handwerk.

Von ihrer Geburtsstunde an, als Citroën die Ente vor 74 Jahren - im Oktober 1948 - auf dem Pariser Autosalon enthüllte, wurde das Auto auch aufgrund seiner Form immer wieder verspottet. Der Auftrag von Citroën-Direktor Pierre Boulanger an Konstrukteur André Lefèbvre hatte gelautet, einen »günstigen, fahrbaren Untersatz zu schaffen, der zwei Bauern und einen Sack Kartoffeln mit 60 km/h zum Markt bringen kann, notfalls in Holzschuhen und über unbefestigte Wege«. Heute hingegen steht der Oldtimer fast schon für eine Lebensart, für Entschleunigung und Unabhängigkeit.

Das 40. Jubiläum der Werkstatt soll in diesem Jahr gefeiert werden. »Wir wissen noch nicht, in welcher Form«, sagt Frisch. Am Geschäft selbst soll in den kommenden 10, 20 Jahren wenig erneuert werden, betont sein Nachfolger Schurig. Die Nachfrage bleibe konstant hoch. »Wir könnten Abläufe digitalisieren«, sagt er. »Aber die Leute kommen hier gerne herein, stehen, sitzen, gucken. Daran werden wir nichts ändern.«

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