Armbrust-Empfang als „Überreaktion“: Mann entgeht Strafe wegen versuchter Tötung
Ein 47-Jähriger aus Linden (Kreis Gießen) empfängt die Polizei an seiner Tür mit einer Armbrust, kurz darauf löst sich ein Pfeil. Nun ist das Urteil gegen den Mann gefallen.
Linden/Gießen - Es geht um nur fünf bis zehn Sekunden - »ein Moment«, wie Vorsitzende Richterin Regine Enders-Kunze in der Urteilsbegründung formuliert. Was genau in diesem Augenblick am 7. September in der Wohnung des Angeklagten in Linden (Kreis Gießen) passiert ist, hat die fünfte Große Strafkammer am Landgericht in Gießen herauszufinden versucht. Fest steht: Die Polizei wollte aus mehreren Gründen seine vier Wände betreten, auch ein Gerichtsvollzieher sollte vorstellig werden. Als sechs Beamte vor der Wohnungstür standen, öffnete der Mann unvermittelt, empfing die Polizei mit einer geladenen und entsicherten Armbrust, hielt sie in ihre Richtung. Die Polizisten überwältigten ihn, dann löste sich ein Pfeil und schlug in der Decke ein. Verletzt wurde niemand.
Hat der Mann den Tod von Polizisten billigend in Kauf genommen - oder gar in Tötungsabsicht abgedrückt? Weder noch, so der Tenor der Kammer, zumindest lasse sich das nicht nachweisen: Man könne »nicht mit Sicherheit davon ausgehen«, dass der Angeklagte den Schuss bewusst ausgelöst habe, sagte Enders-Kunze. Im Ergebnis wurde der Mann am Mittwoch (20.04.2022) wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall und illegalen Erwerbs und Besitzes von Waffen (die Armbrust samt Laser-Zielgerät und »Wurfsterne«) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Vom Vorwurf der versuchten Tötung wurde er in Gießen dagegen freigesprochen.
Linden/Gießen: Empfang mit Armbrust soll „Überreaktion“ gewesen sein
Man gehe zugunsten des Mannes davon aus, dass er vor dem Öffnen der Tür noch nicht sicher gewusst habe, dass auf der anderen Seite Polizisten stehen, so Enders-Kunze. Außerdem nehme man an, dass die Armbrust schon vorher geladen und entsichert war, »das passt zu der Angst, die er vor Eindringlingen hatte«. Den Empfang mit der Armbrust sehe man als »eine Überreaktion, die aufgrund seiner Persönlichkeit so zustande gekommen ist«.
Dass der Angeklagte noch Kontrolle über die gefährliche Waffe hatte, während er in die Wohnung im Lindener Stadtteil Leihgestern gedrängt wurde, »erscheint uns mehr als fraglich«. So habe sich der Schuss laut Zeugen erst gelöst, als der Arm des 47-Jährigen gegen eine Wand gedrückt wurde. Die Vorsitzende am Gießener Landgericht verwies auch auf die Einschätzung eines ballistischen Sachverständigen: Dieser wollte nicht ausschließen, dass die Armbrust auch durch Einwirkung auf den Arm abgefeuert worden sein könnte.

Das Urteil trägt auch der psychischen Verfassung des Mannes Rechnung. Der Angeklagte habe quasi in Isolation gelebt, seit anderthalb Jahren niemanden mehr in seine Wohnung gelassen. Er habe Waffen angeschafft, gleichzeitig aber auch Teddybären gesammelt. Die von einem Sachverständigen bescheinigte Persönlichkeitsstörung habe ihn stark beeinträchtigt. Das Gericht in Gießen ging unterm Strich von einer verminderten Schuldfähigkeit aus. Zu seinen Gunsten wurde auch gewertet, dass er geständig und nicht vorbestraft ist.
Linden/Gießen: Armbrustschütze hatte Sympathien für „Reichsbürger“
Auf ein »letztes Wort« verzichtete der Angeklagte. Einige aus seiner Sicht »sehr wichtige« Punkte hatte er Mitte März in einem Brief an die Vorsitzende aufgelistet, der am Mittwoch verlesen wurde.
Er könne »zweifelsfrei beweisen«, dass er deutscher Staatsangehöriger sei, schreibt der 47-Jährige aus Linden, dessen Hang zu Verschwörungserzählungen und Sympathien für verfassungsfeindliche »Reichsbürger« im Prozess in Gießen mehrfach Thema waren. Er habe nicht mitbekommen, dass die Kripo vor seiner Tür stand und Angst gehabt - zumal vor 20 Jahren eine Bekannte von einem Einbrecher ermordet worden sei. »Ich werde eine Therapie machen«, schreibt der Mann und schließt mit »vielen Dank schon einmal im Voraus«.
Oberstaatsanwalt Frank Späth hatte in seinem Plädoyer drei Jahre und acht Monate Freiheitsstrafe gefordert, war dabei auch von einem versuchten Totschlag ausgegangen. Der Angeklagte habe schießen und damit verhindern wollen, »dass Polizisten ihn in seiner Privatsphäre belästigen«, so der Anklagevertreter. Für den Schuss habe es einer »aktiven Entscheidung« bedurft. Als Motiv machte Späth die »Angststörung« des Angeklagten aus. Dass auch eine »rechtsstaatsfeindliche Gesinnung« Triebfeder gewesen sein könnte, habe sich im Prozess dagegen nicht bestätigt. »Ich hoffe, dass der Angeklagte lernt, wie man sich gegenüber der Obrigkeit und Polizeibeamten verhält«, sagte der Oberstaatsanwalt. »Er wird Zeit haben, an sich zu arbeiten.«
Linden/Gießen: Haftbefehl gegen Angeklagten gilt weiter
Die »Reichsbürger-Ideologie« habe inzwischen »seinen Kopf, ich denke auch sein Herz verlassen«, äußerte sich Verteidiger Dr. Ulrich Endres über seinen Mandanten. Die Tat sei vielmehr »eine Konsequenz aus der Einsamkeit des Mannes«, der die Arbeitsstellen ständig gewechselt und sich »in sein eigenes Reich zurückgezogen« habe - getreu dem Motto: »My home is my castle.« Als die Polizei sich zunächst als »Hausverwaltung« ausgegeben habe, sei der Angeklagte nicht darauf reingefallen. Man müsse im Zweifel davon ausgehen, dass der Schuss sich ohne dessen Willen gelöst habe. Endres plädierte für eine Bewährungsstrafe.
Der Haftbefehl gegen den Mann gilt weiter. Gegen das Urteil kann Revision eingelegt werden. Zumindest die Staatsanwaltschaft werde darauf aber wohl verzichten, meinte Späth im Anschluss. (Jonas Wissner)